Debatte über Bürgergeld
Verdi-Chef: „Damit spaltet Carsten Linnemann das Land“
CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann will beim Bürgergeld „an die Substanz des Systems“ gehen. Verdi-Chef Frank Werneke wirft ihm fehlende Empathie vor.

© /Funke Foto Services
Verdi-Chef Frank Werneke wirbt für einen höheren Mindestlohn.
Von Tobias Peter
Verdi-Chef Frank Werneke kritisiert, CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann und andere spielten Geringverdiener gegen Menschen aus, die noch weniger Geld haben.
Herr Werneke, CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann hat gesagt, die Regierung müsse beim Bürgergeld „an die Substanz des Systems“ gehen. Stimmen Sie zu?
Carsten Linnemann tritt regelmäßig und mit ziemlicher Aggressivität auf den Sozialstaat ein. Das macht er auch und gerade beim Thema Bürgergeld. Er richtet sich gegen die Schwachen in der Gesellschaft und lässt es an Empathie gegenüber Leistungsempfängern vermissen, die es alles andere als leicht im Leben haben. Damit spaltet er das Land.
Der CDU-Generalsekretär sagt, wer wiederholt zumutbare Arbeit ablehnt, dem solle das Bürgergeld gestrichen werden. Sehr viele Menschen in der Bevölkerung sind da seiner Meinung. Sie nicht?
Ich habe zwei Probleme mit dem, was Herr Linnemann sagt. Erstens: Er schafft in der Öffentlichkeit ein falsches Bild von Menschen, die Bürgergeld empfangen. Ja, es gibt auch diejenigen, die sich ihren Mitwirkungspflichten komplett verweigern…
Das sagt auch der CDU-Generalsekretär.
Aber Linnemann erzeugt durch den ständigen Verweis auf die Verweigerer das Zerrbild, hier ginge es um die große Zahl der Menschen. Das ist falsch. Viele Menschen geraten unverschuldet in Notlagen – sie können nicht arbeiten, weil sie krank sind. Viele alleinerziehende Mütter sitzen in der Teilzeitfalle. Es gibt viele Menschen, die arbeiten und aufstocken müssen, also zusätzlich Bürgergeld beziehen, weil sie zu schlecht bezahlt sind. Über all das spricht der CDU-Generalsekretär aber wenig oder gar nicht. Da drängt sich ein Verdacht auf.
Welcher?
Der CDU-Generalsekretär und manch anderer, der abschätzig über Bürgergeldempfänger spricht, kennt vermutlich kaum welche. Er weiß offenbar auch nicht, wie schwierig es gerade für Langzeitarbeitslose oft ist, etwas an ihrer Situation zu ändern. Es ist falsch, Geringverdiener gegen Menschen auszuspielen, die noch weniger Geld haben.
Sie sagten, sie hätten noch ein zweites Problem mit der Forderung, dass diejenigen, die wiederholt Jobangebote ablehnen, kein Bürgergeld mehr bekommen sollen.
Ja. Auch hier geht es darum, dass ein öffentlich ein falscher Eindruck erweckt wird. Es gibt bereits Sanktionsmöglichkeiten gegen diejenigen, die sich verweigern. Auch nach den bestehenden Regeln kann der Regelsatz bereits für zwei Monate komplett gestrichen werden.
Es passiert nach allem, was man weiß, selten bis nie.
Hier sind wir an einem spannenden Punkt. Der Grund, warum Sanktionen in der Praxis Grenzen haben, ist unsere Verfassung. Niemandem kann einfach das Existenzminimum gestrichen werden. Das ist auch richtig. Hinzu kommt, dass es mit solchen Maßnahmen ohnehin schwierig wird, wenn die Betroffenen mit Kindern zusammenleben. Das leuchtet hoffentlich auch jedem ein.
Union und SPD versprechen also Sanktionen, die es in dieser Härte gar nicht geben kann?
Der Koalitionsvertrag von Schwarz-Rot ist in sich widersprüchlich. Er kündigt die komplette Streichung des Bürgergeld in Fällen an, wie sie der CDU-Generalsekretär beschreibt. Der Vertrag verweist aber auch darauf, dass die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts gilt. Zu erwarten ist also viel Koalitionsstreit, bis am Ende ein Gesetzestext zur Reform des Bürgergelds wirklich steht. Die Möglichkeit für Verschärfungen ist in der Substanz jedenfalls begrenzt.
Ändert sich beim Bürgergeld – außer dem Namen voraussichtlich – am Ende gar nicht so viel?
Es wird viel zu wenig darüber gesprochen, dass die Koalition für viele Menschen den Vermittlungsvorrang wieder einführen will. Das bedeutet: Jeder Job muss angenommen werden – egal, wie perspektivlos er ist. Das ist ein Fehler. Sinnvoller wäre, Aus- und Weiterbildung weiterhin als gleichwertige Optionen zu betrachten. Sie tragen maßgeblich dazu bei, dass Menschen nicht dauerhaft in die Grundsicherung abgleiten. Auch dass das Schonvermögen abgeschmolzen werden soll, wird setzt Menschen, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind, unter Druck.
Viele Menschen, die jeden Tag zur Arbeit gehen – oft für ein überschaubares Einkommen –, empfinden das Bürgergeld als ungerecht. Können Sie das nicht verstehen?
Ich spreche viel mit den Mitgliedern unserer Gewerkschaft und erlebe eine große Solidarität mit Menschen, denen es schlechter geht. Das gilt gerade bei denjenigen, für die wir in Tarifverträgen gute und faire Bedingungen durchsetzen können. Aber natürlich erlebe ich es auch, dass Menschen, die zum Teil für sehr wenig Geld arbeiten müssen, auf Bürgergeldempfänger schimpfen.
Und was sagen Sie diesen Menschen?
Es geht niemandem dadurch besser, dass es einem anderen besonders schlecht geht. Als Gewerkschaft setzen wir uns dafür ein, dass Menschen zu fairen Bedingungen arbeiten können. Das ist auch meine Botschaft an Herrn Linnemann: Wenn er will, dass derjenige, der arbeitet, etwas davon haben soll, dann muss er sich auch konsequenterweise für einen höheren Mindestlohn einsetzen. Und dafür, dass das geplante Tariftreugesetz in diesem Land möglichst schnell Realität wird und es mehr allgemeinverbindliche Tarifverträge gibt. Sündenbockdebatten helfen niemandem wirklich. Das Gespräch führte Tobias Peter.
Mechaniker, Gewerkschaftsboss, Chefverhandler
Arbeitnehmer Frank Werneke, geboren 1967, hat – nach seinem Realabschluss – den Beruf der Verpackungsmittelmechanikers in Bielefeld erlernt. Er arbeitete dann als technischer Angestellter. In dieser Zeit engagierte er sich in der Gewerkschaft Druck und Papier in Ostwestfalen. Werneke hat Zivildienst absolviert.
Gewerkschaftschef Als Nachfolger von Frank Bsirske ist Werneke seit dem Jahr 2019 Vorsitzender der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft. Zuvor war er bereits seit vielen Jahren stellvertretender Vorsitzender. Im Jahr 2023 wurde er im Amt als Verdi-Chef bestätigt – mit 92,5 Prozent der Stimmen.
Positionen Als Verdi-Chef führt Werneke die Tarifverhandlungen für Millionen Beschäftigte im Öffentlichen Dienst. In der Corona-Pandemie machte er sich erfolgreich für ein höheres Kurzarbeitergeld stark. Unter seiner Führung warb Verdi gemeinsam mit Fridays for Future für eine sozial gerechte Klimapolitik.