Vor jedem Essen muss gerechnet werden

Diabetes bekommen nur Senioren und Menschen mit starkem Übergewicht – dieser Irrglaube hält sich hartnäckig. Dabei tritt Diabetes Typ 1 in der Regel im Kindesalter auf. Etwa eines von 600 Kindern ist von der Stoffwechselkrankheit betroffen, so wie der zwölfjährige Kian aus Backnang-Strümpfelbach.

Seine Insulinpumpe trägt der zwölfjährige Kian immer bei sich. Seine Mutter Christine Buchal kennt sich mit der Krankheit ihres Sohnes inzwischen bestens aus. Foto: A. Becher

© Alexander Becher

Seine Insulinpumpe trägt der zwölfjährige Kian immer bei sich. Seine Mutter Christine Buchal kennt sich mit der Krankheit ihres Sohnes inzwischen bestens aus. Foto: A. Becher

Von Kornelius Fritz

BACKNANG. Kian war fünf Jahre alt, als seine Mutter merkte, dass mit ihrem Sohn irgendwas nicht stimmt. „Mir ist aufgefallen, dass er auf einmal viel mehr getrunken hat“, erzählt Christine Buchal. Auch nachts wachte der Junge immer wieder auf, weil er Durst hatte. Der Opa erkannte das Warnsignal: „Du wirst doch nicht Diabetes haben?“ Ein Urintest beim Kinderarzt bestätigte die Befürchtung, Kian wurde sofort ins Krankenhaus eingewiesen. Dort kam er an den Insulintropf, bis sich seine viel zu hohen Blutzuckerwerte wieder normalisiert hatten. Seit diesem Tag hat sich für Kian und seine Familie das Leben grundlegend geändert: Einfach essen und trinken, worauf er gerade Lust hat, ist für den heute Zwölfjährigen nicht mehr möglich. Vor jeder Mahlzeit muss er die Lebensmittel abwiegen, genau ausrechnen, wie viele Kohlenhydrate er zu sich nimmt und dann die entsprechende Menge Insulin spritzen. Kian benutzt dafür eine Pumpe, die er ständig bei sich trägt und die das Insulin über eine Kanüle am Bauch ins Fettgewebe abgibt.

Bundesweit sind rund 32000 Kinder und Jugendliche unter 19 Jahren von Diabetes Typ 1 betroffen. Im Vergleich zu den fast sieben Millionen Menschen, die an Typ 2 erkrankt sind, eine geringe Zahl. Trotzdem ist Diabetes die häufigste Stoffwechselerkrankung bei Kindern.

Die Ursachen der beiden Krankheitsvarianten unterscheiden sich: Während Typ 2 vornehmlich bei älteren Menschen auftritt und durch falsche Ernährung und eine ungesunde Lebensweise begünstigt wird, handelt es sich bei Typ 1 um eine Autoimmunerkrankung. Dabei werden die Zellen, die in der Bauchspeicheldrüse Insulin produzieren, vom Körper selbst zerstört. Warum er das tut, ist unklar: „Es gibt eine erbliche Komponente, aber längst nicht alle, die die Veranlagung haben, bekommen auch die Krankheit“, sagt Renate Dürr, Leitende Oberärztin an der Kinderklinik in Winnenden. Was der Auslöser für die Erkrankung sei, wisse man bis heute nicht. Klar ist aber: Mit ungesundem Essen oder zu vielen Süßigkeiten hat Diabetes Typ 1 nichts zu tun. „Die Eltern haben nichts falsch gemacht“, betont Oberarzt Sebastian Meint. Eine Sorge, die auch Christine Buchal hatte, als sie von der Diagnose bei ihrem Sohn erfuhr.

Diabetes ist nicht heilbar, aber man kann lernen, mit der Krankheit zu leben: Weil der Körper kein Insulin mehr produziert, müssen sich die Betroffenen das Hormon, das für die Aufnahme des Zuckers in die Zellen benötigt wird, spritzen – und zwar zum richtigen Zeitpunkt und in der richtigen Menge. Das ist aufwendig: Regelmäßiges Blutzuckermessen gehört für Diabetiker zum Alltag. Früher mussten sie sich dafür jedes Mal in den Finger stechen, Kian hat inzwischen einen Sensor im Oberarm. Acht- bis zehnmal am Tag liest seine Mutter mit einem Scanner die Werte aus. Wenn diese stark schwanken, stellt sie sich dafür auch nachts den Wecker. Denn sowohl zu hohe als auch zu niedrige Blutzuckerwerte können für Kian gefährlich werden, und es gibt viele Faktoren, die den Zuckerspiegel beeinflussen: Neben der Ernährung spielen auch Bewegung, hormonelle Veränderungen und sogar das Wetter eine Rolle. Je nach Messwert muss dann mehr oder weniger Insulin gespritzt werden. „Man wird irgendwann selbst zum Experten für die Krankheit seines Kindes“, sagt Christine Buchal.

Schwierig wird es immer dann, wenn die Eltern mal nicht in der Nähe sind. In Kians Kindergarten wurden deshalb auch zwei Erzieherinnen für den Umgang mit der Krankheit geschult. In der Grundschule kam in der Pause regelmäßig ein Schulbegleiter vom Roten Kreuz vorbei, der Kians Blutzuckerwert checkte und darauf achtete, dass der Junge sein Vesper auch wirklich isst. Inzwischen ist der Sechstklässler alt genug, um das weitgehend selbst zu regeln. Seine Lehrer an der Max-Eyth-Realschule wissen aber von seiner Krankheit und wie sie reagieren müssen, wenn der Schüler etwa in eine bedrohliche Unterzuckerung geraten sollte.

Mittlerweile, sagt Christine Buchal, habe sich ihre Familie an das Leben mit der Krankheit gewöhnt. Kian kann mit seinen Freunden schwimmen gehen und Sport treiben und er darf auch fast alles essen und trinken. Selbst Pizza, Pommes und Kuchen sind mal drin – allerdings nicht zu oft und nicht am Abend. Und auf Cola und zuckerhaltige Limonaden sollte Kian lieber verzichten, weil die den Blutzuckerspiegel so in die Höhe treiben, dass gespritztes Insulin das so schnell gar nicht ausgleichen kann.

„Uns ist wichtig, dass die Kinder in ihren sozialen Aktivitäten nicht eingeschränkt sind und alles mitmachen können, auch den Ausflug oder das Schullandheim“, sagt Ärztin Renate Dürr. Trotzdem müsse den Betroffenen klar sein, dass die Krankheit sie ihr Leben lang begleiten wird: „Von Diabetes kann man keinen Urlaub machen.“

Schulungen am Klinikum

Wird bei einem Kind die Diagnose Diabetes Typ 1 gestellt, wird es in der Regel zunächst für etwa zwei Wochen stationär aufgenommen. Am Rems-Murr-Klinikum in Winnenden kümmert sich ein etwa zehnköpfiges Team um die jungen Patienten, dem neben Ärzten auch Diabetesberaterinnen, Psychologen, eine Ernährungsberaterin und ein Physiotherapeut angehören.

Neben der Behandlung der akuten Symptome geht es vor allem darum, die Eltern und bei größeren Kindern auch diese selbst für den Umgang mit der Krankheit zu schulen.
Auch Großeltern, Erzieherinnen und andere Kontaktpersonen werden geschult.

Bei Aktionswochen können die Kinder ihr Wissen über die Krankheit regelmäßig auffrischen, es stehen aber auch Sport und gemeinsame Ausflüge auf dem Programm.

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Erstellt:
14. November 2020, 06:00 Uhr

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