Wie die Prostitution ins Leonhardsviertel gekommen ist

Einst Heimat von Mostwirtschaften und des „Krempelesmarkts“, dann Symbol der Halbwelt: Das Leonhardsviertel hat Stadtgeschichte geschrieben – und kommt nicht zur Ruhe.

Von Uwe Bogen

Stuttgart - 37 Meter hoch war der geschwungene Stahlskelettbau, der im April 1931 an der Marktstraße 3 feierlich eröffnet worden ist. Das 1881 gegründete Unternehmen Breuninger präsentierte die neue schöne Warenwelt von nun an auf acht Etagen. Der Weltwirtschaftskrise zum Trotz hatte Chef Eduard Breuninger ein Hochhaus von den Architekten Eisenlohr & Pfennig bauen lassen.

Niemand konnte ahnen, dass diese Pracht nur wenige Jahre bleiben durfte. Im Zweiten Weltkrieg ist das markante Gebäude, das den Leonhardsplatz mit kleineren Läden geprägt hat, zerstört worden. Und auch von den Geschäftshäusern mit den Markisen, an denen die Straßenbahnen vorbeizuckelt, wie auf dem Vorkriegsfoto aus den 1930ern zu sehen ist, blieb nichts übrig. Die scheinbare Idylle ist längst vergangen.

Inbegriff der verruchten Seite der Stadt

Einst war der Leonhardsplatz noch nicht von der „Stadtautobahn“ zerrissen, er war mal ein echter Platz. Das dazugehörige Leonhardsviertel zählt zu den ältesten Quartieren Stuttgarts. Geprägt war das Quartier von Handwerksbetrieben, kleinen Gaststätten und Mostwirtschaften. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es zum Inbegriff der verruchten Seite der Stadt – und steht heute erneut im Zentrum einer gesellschaftlichen Debatte.

Die Esslinger Vorstadt (Leonhardsviertel, auch ein Teil des Bohnenviertels gehörte dazu) war die erste Stadterweiterung des mittelalterlichen Kernbereichs der Stadt Stuttgart. Über die Hauptstätter Straße gab es eine direkte Verbindung mit dem Gerberviertel und dem Rathausplatz. In Dokumenten von 1408 wird die Pfarrkirche St. Leonhard, nach dem das Viertel benannt ist, erstmals erwähnt, später mehrmals umgebaut. Im Bombenhagel 1944 brannte sie nieder und wurde in veränderter Form 1950 neu errichtet, ebenso das benachbarte Gustav-Siegle-Haus, das aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg stammt.

1977 rockte AC/DC im Siegle-Haus

Am Leonhardsplatz, direkt neben der Leonhardskirche, fand bis 1910 der „Krempelesmarkt“ statt, ein quirliger Flohmarkt, dessen Buden sich an die Mauern des ehemaligen Friedhofs reihten. Auch Tagelöhner, im Volksmund „Leonhardsschlamper“ genannt, suchten hier täglich Arbeit. Mit dem Gustav-Siegle-Haus, 1912 errichtet, bekam das Viertel eine bedeutende Bildungs- und Kulturstätte – und Jahrzehnte später eine Konzertlegende: 1977 rockte AC/DC vor 800 Zuschauern das Haus.

Das 1930 eröffnete Leonhardsbad war wiederum ein Stück Alltagskultur. Bis 1990 diente es Generationen von Stuttgartern, die zu Hause kein eigenes Bad hatten – für viele war es ein wöchentliches Ritual, in den Zinkwannen das „große Baden“ zu vollziehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich das Bild des Quartiers grundlegend. Die Stadt lag in Trümmern, Behelfsläden und provisorische Wohnungen prägten das Bild. In den Ruinen rund um die Leonhardskirche, auch in den sogenannten Vereinigten Hüttenwerken, breitete sich das älteste Gewerbe der Welt aus. Das Viertel bekam den Ruf eines Rotlichtbezirks, über das 1956 im „Amtsblatt“ zu lesen war: „Obwohl das Meer und die Reeperbahn weit weg sind, bekam die Leonhardstraße etwas von der Stimmung St. Paulis.“ Ein Lob oder eine Drohung?

Hilfe vom Staat blieb lange aus

Was anfangs nach einer Mischung aus Wirtsstuben, Handwerk und Unterhaltung klang, entwickelte sich bald zu einem schwierigen Milieu. Menschenhandel, Zuhälterei und Kriminalität verdrängten nach und nach die alte Nachbarschaft. Hilfe von der Stadt blieb lange aus, und die historische Substanz des Viertels verfiel über Jahrzehnte. Die Stadtautobahn zerschnitt das Quartier und machte den einstigen Leonhardsplatz zu einem isolierten Rest. Das Viertel wurde immer stärker auf sein Rotlicht reduziert, und die Politik schien kaum Interesse daran zu haben, diese Entwicklung aufzuhalten.

In den vergangenen Jahren hat ein Umdenken eingesetzt. Mit einem neuen Bebauungsplan, den der Gemeinderat im Dezember 2024 beschlossen hat, will die Stadt Stuttgart einen klaren Schnitt vollziehen: Laufhäuser, Wettbüros und ähnliche Vergnügungsstätten sollen im Leonhardsviertel nicht länger zulässig sein. Bordelle sind künftig außerhalb des City-Rings nicht mehr erlaubt, also nicht mehr in der Altstadt. Damit sollen nicht nur Konflikte um Prostitution eingegrenzt werden, sondern auch Kriminalität und Drogenhandel. Das urbane Leben mit Wohnen, Bars und Handwerk soll aufblühen.

In der Stuttgarter Altstadt brodelt es

Doch wo neue Gastronomie Hoffnung auf Wandel gibt, entstehen zugleich neue Konflikte. In der Altstadt brodelt es – besonders rund um die Uhu-Bar. Während die einen in ihr ein Symbol für ein neues, buntes Leonhardsviertel sehen, klagen Anwohner oder Gastro-Nachbarn über Lärm und nächtliche Exzesse. Die Stadt kündigt regelmäßige Kontrollen an – und hat bisher nichts unternommen, um den neuen Bebauungsplan im Viertel umzusetzen.

Das Leonhardsviertel hat Stadtgeschichte geschrieben mit all seinen Brüchen, Schattenseiten und Neuanfängen. Ob es gelingt, aus dem einst ins Abseits geratene Quartier ein lebendiges, vielfältiges Viertel zu formen, wird sich in den kommenden Jahren herausstellen.

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Erstellt:
4. September 2025, 22:06 Uhr
Aktualisiert:
5. September 2025, 20:57 Uhr

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