Zwei Jahre nach dem Applaus: eine Bilanz
Interview Die Coronapandemie hat ein Schlaglicht auf die Probleme im Pflege- und Gesundheitssystem geworfen. Wir haben mit Jürgen Mang von der Diakonie ambulant in Murrhardt gesprochen. Der Altenpfleger ist das marode System und die Ignoranz der Politik leid.

© Jörg Fiedler
Jürgen Mang ist bei seinem Beruf als ambulanter Altenpfleger stets mit dem Auto unterwegs. Foto: Jörg Fiedler
Wie viel Zeit haben Sie für ihre jeweiligen Patienten?
Ich habe für eine große Körperpflege maximal eine halbe Stunde. Da ist ins Bad begleiten, umziehen, duschen oder baden, und dann wieder anziehen dabei. Vielleicht auch föhnen und die Person wieder in den Sessel setzen oder so etwas. Und für anderes, wie Insulinspritzen, habe ich fünf Minuten. Die Pflegeleistungen sind in Deutschland alles sehr zeitbelegt.
Hätten Sie für Ihre Patienten gerne mehr Zeit?
Die Frage ist: Was möchte ich? Die meisten Leute in dem Alter möchten reden. Ich kann neben dem Waschen natürlich auch reden, vielleicht auch mal länger, aber das kann ich nicht jeden Tag machen. Die Sozialkontakte werden nicht honoriert. Das ist unser System. Damit bin ich nicht einverstanden, aber so ist es.
Sollte es die Aufgabe von einem ambulanten Pfleger sein, das soziale Bedürfnis der Klienten zu stillen?
Kommunikation gehört ja immer dazu. Früher war das auch noch normal, aber inzwischen wird es immer technischer. Eine Frau mit verschiedenen Arthrosen beispielsweise, die kann nicht einmal richtig laufen. Aber die Zeit für einen Patienten ist immer die gleiche. Es zählt nur die Leistung. Aber Kommunikation und Sozialkontakte ist das, was wir brauchen. Und nicht bloß geschwind eine Wäsche.
Hat der Pflegeberuf mehr Anerkennung in der Gesellschaft und Politik gefunden, seit dem „Applaus“ Anfang 2020?
Nein, und das wurde früher schon nicht gemacht. Es wird jahrelang nur geredet. Dass man wertschätzt, dass man klatscht, das ist wunderbar, bringt aber nichts. Vor der Wahl werten die Politiker die Pflege auf, und danach hört man nichts. Für den Krieg zahlen wir gleich 100 Milliarden ohne Probleme, und für unsere eigenen Menschen nichts. Jetzt soll es zwar einen Coronabonus für Teile der Pflege geben – aber warum nicht für alle? Und Wertschätzung ist nicht nur Geld. Wir brauchen viel mehr Pflegekräfte. Ich bin seit 1990 in der Pflege. Da hat es schon immer Personalmangel gegeben. Und das ist nicht besser geworden. Die meisten Schüler, die wir jetzt haben, sind schon so um die 40. Das ist wunderbar, aber ich brauch eigentlich 18-Jährige, die möglichst im Beruf bleiben. Der Nachwuchs fehlt.
Was wünschen Sie sich von der Politik? Mehr Geld, einmal für uns Pflegekräfte und einmal für die Patienten. Seit es die Pflegeversicherung gibt, wurden die Leistungen nicht erhöht, aber man zahlt mehr in die Kasse ein. Oft komme ich bei Patienten nur einmal die Woche zum Duschen vorbei, weil die das Geld brauchen. Ohne Familie würde das gar nicht funktionieren. Die Pflegedienste sind marktwirtschaftlich orientiert. Aber das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Wenn wir das als Staat machen, dann würde es funktionieren. Dann müssen nicht drei verschiedene Pflegedienste nach Fornsbach fahren, das kann dann einer machen. Außerdem muss die Pflege entbürokratisiert werden. Wir brauchen ein einheitliches Handeln von Politik und Krankenkassen.
Als Corona im März 2020 hier ankam, wie hat sich das auf Ihren Arbeitsalltag ausgewirkt?
Wir haben mit Maske gearbeitet, mit der Hygiene aufgepasst und versucht, möglichst nicht nah zu den Patienten zu gehen. Was ich schlimm fand war, dass man am Anfang noch nicht gewusst hat, was Sache ist. Und wenn dann einer positiv ist? Was passiert mit dem Patienten? Da sind wir dann ausgestiegen. Wenn ich zu einem positiven Patienten gegangen wäre, hätte ich es zum Nächsten bringen können. Wenn jemand Corona hatte, wurde er nach Hause geschickt und es ist kein Doktor und kein Pfleger mehr gekommen. Das finde ich schlimm.
Da war vermutlich eine tägliche Angst vor der Infektion da. Wie sehr haben Sie sich da privat eingeschränkt?
Vom Geschäft her hatte man einige Patienten weniger. Und bei mir privat? Ich habe keine Angst vor der Krankheit. Aber ich will es ja auch nicht bekommen, das ist klar.
Würden Sie dafür plädieren, dass man als Pfleger weiterarbeiten darf, obwohl man an einer Coronainfektion leidet?
Wenn man keine Symptome hat, ja. Wenn die Patienten krank sind, brauchen sie doch Hilfe. Ich kann die doch nicht alleine lassen. Jemanden, der nicht laufen kann, muss ich doch irgendwie versorgen. Und das funktioniert noch immer nicht. Da fehlt Mitmenschlichkeit.
Haben Sie sich impfen lassen?
Gezwungenermaßen. Ich halt davon nichts. Dann halten Sie auch nichts von der einrichtungsbezogenen Impfpflicht?
Das Problem ist, wir haben auch Personal, das nicht geimpft ist. Die verliert man so auch noch. Und die haben die ersten zwei Jahre auch ohne Impfung gearbeitet, das hat funktioniert. Ich habe mir schon Gedanken über eine Impfung gemacht. Ich habe unterschrieben, dass ich die Nebenwirkungen kenne, dabei konnte ich das noch gar nicht abschätzen. Wenn ich das freiwillig mache, bin ich schuldig. Aber jetzt ist der Staat schuldig.
Seit Anfang 2020 gibt es die generalistische Pflegeausbildung. In dieser werden die ehemaligen Ausbildungsberufe der Altenpflege, Gesundheits- und Krankenpflege und der Kinderkrankenpflege zusammengefasst. Denken Sie, das macht den Ausbildungsweg für junge Menschen attraktiver?
Wenn man Fachleute fragt, ist das der größte Kruscht. Das ist nichts Halbes und nichts Ganzes. Wer im Krankenhaus die Ausbildung macht, sollte ins Krankenhaus gehen und wer es im Heim macht, geht ins Heim. Man kann es ja probieren. Aber dann muss man in fünf, sechs Jahren gucken, ob es funktioniert. Was beim Pflegedienst eher das Problem ist, ist das Arbeiten am Samstag und Sonntag, die Nachtschichten und das Einspringen.
Und das Einspringen ist mit Corona vermutlich öfters geworden?
Ja, wenn sich jemand positiv testet, ruft er um kurz vor sechs Uhr an. Dann muss ich los zum Patienten. Wenn im Heim mal bloß einer da ist statt zwei, geht das noch. Aber wir im ambulanten Dienst müssen raus. Das ist arg herausfordernd. Dafür ist es schön, weil du nur für dich bist, deine Sachen machst, in deinem Tempo arbeiten kannst.
Sie wollen ja mehr junge Leute für Ihren Beruf gewinnen. Welche schöne Seiten hat er noch?
Du bekommst zwischenmenschlich etwas zurück. Die Patienten reden mit dir und sie haben fast alle Lebenserfahrung, außer sie sind ganz dement. Die können dich besser einschätzen als du dich selber, vor allem wenn du jung bist. Das ist schön. Und zu vielen hast du einen besseren Kontakt wie deren eigene Kinder ihn haben.
Was ist Ihnen noch wichtig?
Der Beruf muss aufgewertet werden. Wenn es jetzt so schlecht aussieht in der Pflege, dann muss ich mehr bieten wie ein anderer Arbeitgeber. Die meisten arbeiten gerne von 8 bis 16 Uhr, wollen dann heim gehen und samstags, sonntags frei haben. Du willst ja was erleben im jungen Alter. Wenn das negativ im Pflegeberuf ist, und es ist negativ, dann muss ich etwas Positives dagegenhalten. Sonst wird es ja nicht besser. Wir müssen da mehr machen. Denn wir werden immer älter, wir brauchen die Jungen.
Das Gespräch führte Anja La Roche.
Berufsweg Der Mitte-50-Jährige leistete seinen Zivildienst im Altenheim und entschied sich danach für die Ausbildung zum Altenpfleger. Seit 1990 ist Jürgen Mang in der Pflege tätig und absolvierte diverse Weiterbildungen, unter anderem zur Pflegestationsleitung und zu Demenz. Bevor er 2016 zur Diakonie ambulant in Murrhardt kam, arbeitete er in einem privaten Pflegeheim.