Jenseits des Existenzminimums
Zwischen Hunger und Beschuss – der tägliche Kampf ums Überleben in Gaza
Im Gazastreifen verschärft sich die Krise: Millionen leiden Hunger, Hilfslieferungen werden blockiert – Palästinenser sehen sich einer gefährlichen Wahl gegenüber.

© IMAGO/Anadolu Agency
Palästinensisches Kind mit einer Pfanne in der Hand: Hungerleidende Palästinenserinnen und Palästinenser im Gazastreifen versuchen, an Essen zu kommen.
Von Gülay Alparslan
Mehr als 100 internationale Organisationen – darunter Ärzte ohne Grenzen, Amnesty International und Oxfam – haben auf actionagainsthunger.org einen dringenden Appell an die internationale Gemeinschaft gerichtet. In einer gemeinsamen Erklärung fordern sie einen sofortigen und dauerhaften Waffenstillstand im Gazastreifen sowie die uneingeschränkte Öffnung aller Grenzübergänge, um humanitäre Hilfe zu ermöglichen und eine weitere Verschärfung der humanitären Krise zu verhindern.
Dort heißt es weiter: Humanitäre Helfer, einst diejenigen, die Hilfe leisteten, stehen nun gemeinsam mit den Gemeinschaften, denen sie Lebensmittel verteilten, in langen Schlangen für Essensausgaben. Das liege jedoch nicht daran, dass das von den Vereinten Nationen geführte humanitäre System versage, sondern daran, dass dessen Arbeit verhindert werde. Medizinische Versorgung, Lebensmittel, sauberes Wasser und Treibstoff liegen laut den Organisationen ungenutzt in Lagern, während humanitären Organisationen der Zugang zu diesen Gütern und deren Verteilung verweigert wird. Gleichzeitig verschlechtern sich die Bedingungen vor Ort weiter.
Die Organisationen kritisieren in ihrem Appell die israelische Blockade, durch die es bereits zu einer massiven Hungersnot und dem Tod von zahlreichen Menschen, darunter 80 Kindern, gekommen ist.
World Central Kitchen muss Küchen in Gaza schließen
Ende Mai hatte unsere Redaktion bei der Hilfsorganisation World Central Kitchen (WCK) nachgefragt, wie es um die Lebensmittelversorgung im Gazastreifen stehe. „Seit dem 7. Mai sahen wir uns gezwungen, unsere Küchen und Ausgabestellen in Gaza vorübergehend einzustellen“, erklärte Carrie Hayes, die bei WCK für Medien- und Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist. Grund dafür sei, dass es an Vorräten fehle, da Israel die Zufahrtswege blockiere. Ende Juni bestätigte sie erneut: „Unsere Lager sind leer, Hilfslieferungen stauen sich an den Grenzübergängen – selbst genehmigte Lkws dürfen nicht weiterfahren, weil sichere Transportkorridore fehlen“. Die israelische Armee habe bislang keine sicheren Routen genehmigt, „um unsere Hilfsgüter von der Grenze in unsere Küchen zu bringen“, und weiter: „Sobald wir wieder beliefert werden, können wir die Essensausgabe innerhalb von 24 Stunden wieder aufnehmen.“
Einem Bericht der Nachrichtenagentur AFP zufolge weist die israelische Regierung den Vorwurf einer Blockade von Hilfslieferungen zurück und erklärte, derzeit warteten 950 Lastwagenladungen mit Hilfsgütern im Gazastreifen darauf, von Hilfsorganisationen verteilt zu werden. Ein hochrangiger israelischer Sicherheitsvertreter, der von der „Times of Israel“ zitiert wurde, betonte, eine Hungersnot sei „zu diesem Zeitpunkt“ nicht erkennbar.
Seit der Übernahme durch die Gaza Humanitarian Foundation (GHF) wurden vier Verteilzentren eröffnet: drei im äußersten Süden des Gazastreifens und eines im Zentrum nahe des von der israelischen Armee angelegten Netzarim-Korridors. Diese Zentren befinden sich in von israelischen Streitkräften kontrollierten Gebieten, aus denen die Bevölkerung gewaltsam vertrieben wurde. Die Ausgabestellen sind von Wachposten und Stacheldraht umgeben.
Amnesty-International-Expertin zeichnet erschütterndes Bild von Gaza
Ende Juni fragten wir auch bei Amnesty International (AI) nach den derzeitigen Lebensbedingungen in Gaza. Katja Müller-Fahlbusch, Nahost- und Nordafrika-Expertin bei Amnesty International Deutschland, erklärte, dass das von Israel initiierte und von den USA unterstützte militarisierte „Verteilsystem“ der Gaza Humanitarian Foundation (GHF) im Gazastreifen im Grunde eine Fortführung der Praxis sei, „Hunger als Kriegswaffe einzusetzen“. Nach Einschätzung von Müller-Fahlbusch handle es sich dabei um den Versuch, „vorsätzlich Lebensbedingungen zu schaffen, die geeignet sind, die physische Zerstörung der Palästinenserinnen und Palästinenser als Gruppe herbeizuführen. Das stellt einen klaren Verstoß gegen das Völkerrecht und möglicherweise einen Akt des Völkermords dar“, so die Expertin.
Es gebe nur noch vier militärisch kontrollierte Verteilzentren statt ehemals über 400 Hilfsstationen. „Das zwingt zwei Millionen Menschen, unter Lebensgefahr in überfüllte Zonen zu kommen“, erklärt Müller-Fahlbusch.
Seit Inbetriebnahme der Verteilzentren der Gaza Humanitarian Foundation (GHF) wurden laut Amnesty International weit über 700 Palästinenserinnen und Palästinenser von der israelischen Armee oder bewaffneten palästinensischen Gruppen getötet, mehr als 5000 Menschen verletzt. Katja Müller-Fahlbusch erläutert: „Die Menschen im Gazastreifen stehen damit vor der Wahl, sich entweder unter Lebensgefahr auf den Weg zu machen, um Nahrung für sich und ihre Familien zu suchen, oder zu hungern.“ Dieses Dilemma verschärft die bereits dramatische humanitäre Lage zusätzlich.
Jede dritte Person im Gazastreifen mehrere Tage ohne Nahrung
Zahlreiche Berichte dokumentieren schwere Gewalttaten bei der Essensausgabe. So eröffneten israelische Truppen am 20. Juli in Nordgaza das Feuer auf Menschen, die versuchten, UN-Hilfskonvois zu erreichen. Dabei kamen nach Angaben der WHO mehr als 79 Menschen ums Leben, Hunderte wurden verletzt. Die „gefährlichen Menschenmengen“ wurden nach einem Bericht der Washington Post von Augenzeugen als hungernde Zivilisten beschrieben. An anderen Verteilpunkten sollen bis zu 93 Menschen getötet worden sein, während israelische Quellen angaben, es habe sich lediglich um Warnschüsse gehandelt.
Die von unabhängigen internationalen Organisationen direkt ausgegebenen Lebensmittelhilfen deckten derzeit etwa 260.000 Mahlzeiten pro Tag für rund 2,1 Millionen Menschen ab, darunter etwa die Hälfte Kinder und Minderjährige. Katja Müller-Fahlbusch betont, dass dies „nicht einmal dem sprichwörtlichen Tropfen auf den heißen Stein“ entspricht und die Notlage somit weiterhin gravierend bleibt“.
Eine aktuelle Einschätzung des Welternährungsprogramms (WFP) von Anfang Juli zeigt, dass etwa jede dritte Person mehrere Tage am Stück keine Nahrung zu sich nehmen kann. Zwischen Mai und September dieses Jahres werden voraussichtlich rund 470.000 Menschen von einer Hungerkatastrophe betroffen sein – eingestuft als IPC-Phase 5, die höchste Stufe der sogenannten „Integrierten Klassifizierung der Ernährungssicherheitsphasen“ (IPC). Diese Phase steht für eine katastrophale Ernährungsunsicherheit, bei der Menschen unter lebensbedrohlichem Hunger leiden, massive Mangelernährung vorherrscht und die Sterblichkeit stark ansteigt.
Menschenwürdigen Zugang zu humanitärer Hilfe gewähren
Die Unterernährung in Gaza nimmt stark zu, etwa 90.000 Kinder und Frauen benötigen dringend medizinische Behandlung. Seit Oktober 2023 sind im Gazastreifen mindestens 66 Kinder an den Folgen von Unterernährung gestorben. Katja Müller-Fahlbusch warnt: „Die Zahlen akuter und lebensbedrohlicher Unterernährung bei Kindern steigen derzeit sprunghaft an.“
Die Expertin erinnert daran, dass Israel als Besatzungsmacht nach internationalem Recht dazu verpflichtet sei, „sicherzustellen, dass humanitäre Hilfe an die Zivilbevölkerung geleistet werden kann“. Müller-Fahlbusch weist darauf hin, dass der Internationale Gerichtshof Israel bereits mehrfach – zuletzt im Jahr 2024 – rechtsverbindlich dazu aufgefordert habe, dieser Pflicht nachzukommen. Bislang sei diese Aufforderung jedoch nicht umgesetzt worden.
„Deswegen fordert Amnesty International die israelische Regierung eindringlich auf, alle Beschränkungen sofort aufzuheben und unverzüglich sicherzustellen, dass die Menschen im gesamten Gazastreifen ungehinderten, sicheren und menschenwürdigen Zugang zu humanitärer Hilfe erhalten“, so Katja Müller-Fahlbusch.