Der Wundermann aus Japan

Die Vierschanzentournee ist immer für Überraschungen gut, ein Sieg von Ryoyu Kobayashi wäre aber keine

Skispringen - Ryoyu Kobayashi ist die große Überraschung der Saison. Mit vier Weltcup-Siegen im Gepäck reist er zur Vierschanzentournee nach Oberstdorf und gilt als turmhoher Favorit.

Oberstdorf Wenn Ryoyu Kobayashi etwas liebt, dann das Leben. Der nur 1,73 Meter große Japaner gibt als DJ gerne mal die Rampensau. Noch besser gefällt es ihm, wenn er seinem gebrauchten Porsche-SUV ordentlich die Sporen gibt. Fensterscheibe runter, Sonnenbrille auf – und Vollgas! Noch nichts erreicht, aber den dicken Max spielen – sein Trainer Janne Väätäinen hat in den vergangenen Jahren mit dem lebensfrohen Burschen so seine liebe Not gehabt.

Der Skispringer Ryoyu Kobayashi ist mit Talent gesegnet, lief aber Gefahr, es zu verschleudern, weil das Leben Schöneres zu bieten hat als den Trainingsalltag in muffeligen Sporthallen. Den Coach brachte das auf die Palme. Inzwischen ist alles anders. Väätäinen hat sich seinen Zögling nicht zur Brust genommen, das machte er schon all die Jahre schon erfolglos genug. Kobayashi selbst war es, der zu der Erkenntnis gelangte, dass Begabung alleine nicht ausreicht – man muss auch etwas tun.

Frustrierende Weltcup-Nullnummern führten dazu, dass er begann, immer öfter das Auto stehen zu lassen. „Als er verstand, mehr machen zu müssen, ist er gut geworden“, sagt der Coach heute. Kobayashi ist sogar so gut geworden, dass er vor dem Auftakt der Vierschanzentournee an diesem Sonntag in Oberstdorf (Qualifikation am Samstag) als turmhoher Favorit eingestuft wird. Noch vor dem polnischen Wundermann Kamil Stoch – das ist mal ein Wort.

Vier Weltcup-Siege, zwei dritte Plätze, ein siebter Rang, und das alles in dieser Saison – der Lebemann aus Hachimantei im Norden Japans führt die Weltcup-Wertung an und damit auch das Preisgeld-Ranking. Bisher hat er in diesem Winter stramme 64 600 Euro verdient. Wenn er so weitermacht, ist ein nagelneuer Porsche drin. So weit denkt der 22 Jahre alte Skispringer aber wohl noch nicht – hofft zumindest sein Trainer. Denn der Schwung, den Kobayashi neuerdings im Training an den Tag legt, soll keine vorübergehende Erscheinung sein.

Experten sagen schon jetzt voraus, dass der Japaner mal einer der erfolgreichsten Athleten der Historie werden kann, sollte er weiter an sich arbeiten. Außerdem spielen sie in seiner Heimat ob seines famosen Saisonstarts fast verrückt. Seit 21 Jahren hat kein Japaner mehr die Tournee gewonnen. Der letzte Sieger aus dem Land der aufgehenden Sonne war Kazuyoshi Funaki, daran erinnern sich nur die höheren Semester unter Skisprung-Fans. Die neue Hoffnung, sie heißt Kobayashi.

So hoch die Erwartungen in Japan auch sind – der Sohn eines Sportlehrers gibt sich cool. „Ich spüre keinen Druck, dass ich jetzt als Favorit in die Tournee gehe“, sagt Koba­yashi. „Ich möchte einfach nur meine besten Sprünge zeigen“, fügt er hinzu. Und vor allem sagt er es lässig, weshalb der deutsche Skispringer Karl Geiger die neue Rakete der Branche auch so bewundert. „Sehr entspannter Typ. Er ist echt locker drauf, wenn man mit ihm quatscht“, sagt der Oberstdorfer über den Wunderknaben aus Japan, die große Überraschung der Saison.

Ryoyu Kobayashi kommt nicht nur bei seinen Konkurrenten an. Nahezu die komplette Trainer- und Expertengilde ist fasziniert von den Fähigkeiten des Mannes, dessen beide Brüder wie auch Schwester ebenfalls Ski springen. „Er hat eine ganz tolle Absprungtechnik“, sagt der deutsche Bundestrainer Werner Schuster. Das Besondere an Koba­yashi ist, dass er nach dem Absprung extrem schnell in die optimale Flughaltung findet, fast wie auf Knopfdruck. Alles ist eins: der Anlauf, die Flugphase, die Landung, wie aus einem Guss. „Ryoyu hat oben keine Ecke drin, er macht keinen Zappler – nichts“, wundert sich DSV-Adler Richard Freitag. Und Tourneelegende Sven Hannawald meint: „Bei ihm geht das eine ins andere über. Deshalb sieht es so leicht aus.“

Im Jahr 2012 fiel dem in Japan arbeitenden Trainer Väätäinen der damals 14 Jahre alte Skispringer erstmals auf. Drei Jahre später beendete er die Schule und wurde ins Kasai-Team aufgenommen, das nach der immer noch mitspringenden japanischen Legende Noriaki Kasai benannt ist. Aufgefallen ist Kobayashi auch am 27. August 2017. Damals sprang er in Hakuba erstmals auf das Podest – bei einem Sommer-Grand-Prix. Er wurde Zweiter hinter seinem fünf Jahre älteren Bruder Junshiro. Den hat er inzwischen überholt. Aufhorchen ließ er überdies bei den Winterspielen in Pyeongchang – als Siebter von der Normalschanze und Zehnter von der großen Rampe. Er war der beste Japaner. Dass seine Leistungen in dieser Saison derart durch die Decke gehen würden, daran hat jedoch keiner geglaubt – vermutlich nur Ryoyu Kobayashi selbst.

Denn er wusste ja immer, was er kann – wenn er sich nur ein bisschen diszipliniert. Porsche fahren kann er noch ein Leben lang, Ski springen nicht.

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Erstellt:
29. Dezember 2018, 03:14 Uhr

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