„Ganz oben wird zu großzügig gepfiffen“

Interview Am Montag endet die Ära von Michael Keller als Obmann der Backnanger Fußballschiedsrichtergruppe. Der 45-Jährige blickt zurück, zieht Bilanz, spricht über die Unterschiede zwischen der Bundesliga und der Basis und verrät, dass er weiterhin stark eingespannt sein wird.

Junge Menschen für den Schiedsrichterjob zu begeistern, das ist und bleibt für Michael Keller eine wichtige Aufgabe. Foto: Alexander Becher

© Alexander Becher

Junge Menschen für den Schiedsrichterjob zu begeistern, das ist und bleibt für Michael Keller eine wichtige Aufgabe. Foto: Alexander Becher

Sie traten 2012 in die Fußstapfen von Vorgängern wie Albert Keit, Gerhard Klaiber, Lothar Fink oder Peter Röhrle. Wurden Sie gedrängt, weil sonst keiner wollte, oder hat Sie das Amt gereizt?

Es hat mich tatsächlich gereizt. Als Peter Röhrle gesagt hat, dass er aufhört, war relativ schnell klar, dass ich als sein Stellvertreter das Amt übernehmen werde. Damit war auch der Ausschuss sofort einverstanden.

Nicht alle können mit dem Begriff des Schiedsrichterobmanns sofort was anfangen. Was sind die Hauptaufgaben?

Es ist ein breites Spektrum. Ich mache zum Teil die Einteilungen der Schiedsrichter, repräsentiere unsere Gruppe und organisiere Schulungen, verteile die Aufgaben im Ausschuss – von allem ein bisschen, was die Organisation der Schiedsrichterei angeht.

Ein wichtiges Thema in Ihrer Amtszeit war die Nachwuchsgewinnung. Wie ist es derzeit um die Personalsituation in der Backnanger Gruppe bestellt?

Beim WFV ist generell ein zarter Trend erkennbar, dass es aufwärts geht. Uns geht es etwas besser als vielen anderen Gruppen. Wir konnten bislang jedes Jahr einen Neulingskurs anbieten, während dies ganze Bezirke zwei Jahre lang nicht hingekriegt haben. Die Resonanz ist okay, auch wenn sie natürlich noch viel besser sein könnte.

Man muss ein dickes Fell haben und die Ohren auf Durchzug stellen können, um mit den Beschimpfungen klarzukommen. Warum raten Sie jungen Leuten trotzdem zum Schiedsrichterjob?

Sich durchzusetzen, kritische Entscheidungen in kurzer Zeit alleine treffen zu müssen und zu ihnen zu stehen ist eine Persönlichkeits- und Charakterschulung, die es sonst in der Freizeit in der Form nicht gibt. Das kommt auch bei Bewerbungen im Beruf gut an, das weiß ich aus eigener Erfahrung.

Haben Sie den Eindruck, dass der Respekt vor den Unparteiischen im Lauf der Jahre geringer geworden ist?

Ich glaube, dass die Akzeptanz insgesamt abgenommen hat. Selbst bei noch so klaren Nullachtfünfzehnfouls im Mittelfeld kommen drei Leute auf einen zu und wollen diskutieren. Das lernen sie aber auch aus der Bundesliga. Dazu kommt, dass die Hemmschwelle allgemein niedriger geworden ist, das war nach Corona extrem zu spüren. Die Leute haben ihren Frust abbauen müssen.

Wo sind für Sie die verbalen Grenzen des Erträglichen überschritten?

Für mich ist jede Beleidigung unzulässig. Da bin ich sehr konsequent als Schiedsrichter, vielleicht konsequenter als viele Mitstreiter. Noch okay ist, wenn mal einer sagt: Schiri, hast du das nicht gesehen? Aber nicht: Bist du blind? Das ist dann schon diskriminierend gegenüber einem blinden Menschen, das werte ich auch aus dieser Sicht. Oder der Ausruf: Bist du behindert? Das finde ich ganz schlimm, da gehe ich dagegen vor.

Öfter wird auch über körperliche Attacken auf Referees berichtet. Wurden Sie selbst schon einmal angegriffen?

Es wollte mal ein Spieler auf mich losgehen, er wurde aber von den Kollegen festgehalten. Er hat sich losgerissen, aber die Heimmannschaft hat sich relativ schnell um mich geschart und mich geschützt. An einen tätlichen Angriff, bei dem ein Unparteiischer geschlagen wurde, erinnere ich mich in unserer Gruppe auch sonst nicht. Dass es angedroht wurde und Spieler oder Fans zurückgehalten werden mussten, kam schon vor, aber dann gibt’s auch noch die Ordner.

Hatten Sie als Obmann noch genug Zeit, selbst ab und zu Spiele zu pfeifen?

Was mich zeitlich mehr einschränkt ist die Aufgabe als Beobachter, weil ich da samstags und sonntags unterwegs bin. Ich habe aber immer geschaut, dass ich vor allem in der Vorbereitung etwa zehn bis 15 Spiele pro Saison pfeife, das ist mir sehr wichtig.

Welchem Verein drücken Sie in der Bundesliga die Daumen?

Dem VfB Stuttgart. Da bin ich Mitglied und war früher auch oft im Stadion, aber ich gehe inzwischen nicht mehr hin. Mir sind viele Leute zu aggressiv und der ganze Kommerz macht mir keinen Spaß. Da gehe ich lieber zu Oberliga-Spielen der SG Sonnenhof oder schaue mir Landesliga-Partien an.

Ertappen Sie sich selbst dabei, wie Sie auf die Schiedsrichter schimpfen?

Das mache ich grundsätzlich nicht, weil ich weiß, wie schwer ihr Job ist. Daher schimpfe ich niemals, sondern verteidige sie immer – egal wie offensichtlich manche Fehler sind.

Wer ist oder war in Ihren Augen der beste Vertreter Ihrer Zunft?

Ich fand Knut Kircher stark, weil er mit seiner Art und seinem Auftreten auch für die Schiedsrichter an der Basis ein Vorbild war und zu unseren Schulungen gekommen ist. Dafür wird er als neuer DFB-Schiedsrichterchef kaum noch Zeit haben. Auch Deniz Aytekin bewegt sich auf einem hohen Level, weil er mit seiner Persönlichkeit die Spieler erreicht und deren Respekt bekommt.

Wird in der Bundesliga so gepfiffen, wie Sie es von Ihren Leuten erwarten?

Nein. In der Bundesliga wird über verbale Auseinandersetzungen viel mehr hinweggesehen, das gilt auch fürs Ballwegschlagen. Wir würden Stress kriegen, wenn wir in den unteren Ligen so viele Kleinigkeiten zulassen würden. Deshalb finde ich, dass ganz oben zu großzügig gepfiffen wird. Das ist aber auch ein Stück weit dem Geld geschuldet und die Zuschauer müssen bei Laune gehalten werden. Es wäre blöd, wenn jedes Spiel mit acht gegen acht enden würde.

Wie stehen Sie zum Videobeweis?

Er ist in den Ligen, in denen es um viel Geld geht, sicher sinnvoll. Ich habe eine Statistik gelesen, dass wohl in der vergangenen Saison 115 Entscheidungen korrigiert wurden, davon 111 richtig. Wenn man das berücksichtigt, ist der VAR auf alle Fälle ein Erfolg.

Sie hören als Obmann am Montag bei der Hauptversammlung auf. Warum?

Als sich Dominik Wagner in unserer Gruppe einen Namen gemacht hat, dachte ich mir, das wäre mal ein guter Nachfolger. Ich habe ihn gefragt und er hat Ja gesagt. Das war schon 2021. Er ging dann in den Ausschuss, um sich ein Bild zu machen. Seit längerer Zeit ist klar, dass es so kommt. Nach zwölf Jahren ist man auch froh, das Amt an einen guten Nachfolger abgeben zu können, zumal ich andere Aufgaben übernehmen will.

Welche?

Wir haben derzeit keinen Lehrwart. Ich will das machen, um die Gruppe breiter aufzustellen. Das Amt beinhaltet, Schulungen in anderen Gruppen zu leiten und die Regelkenntnisse der Schiedsrichter aufzufrischen. Zudem werden ich wohl in den Verbandsschiedsrichterausschuss aufsteigen und dafür zuständig sein, die Schiedsrichter dauerhaft bei der Stange zu halten. Weitere Themen sind Ehrungen und Gewaltprävention.

In Ihre Fußstapfen als Obmann tritt Dominik Wagner. Was raten Sie ihm?

Dass er alles genauso macht wie ich (lacht). Nein, im Ernst: Er soll auf die Leute zugehen und versuchen, Jung und Alt ins Boot zu holen. Nur so funktioniert es. Die Älteren können den Jüngeren immer etwas mitgeben, die Jüngeren halten die Älteren jung.

Das Gespräch führte Steffen Grün.

Zur Person

Spieler Am 12. November 1978 in Backnang geboren, wächst Michael Keller in Großaspach auf, wo der Vater einer Tochter (18) und eines Sohns (16) auch heute wohnt. Er spielt als Torwart für die Spvgg Großaspach und nach der Fusion für die SG Sonnenhof, hört aber nach der A-Jugend schnell auf.

Schiedsrichter 1995 besteht Keller, vorher schon ab und zu Vereinslinienrichter, die Prüfung und pfeift fortan auf der Liste der SG Sonnenhof. Er schafft es als Referee bis in die Bezirks-, als Assistent bis in die Oberliga.

Funktionär 2003 rückt Keller als Beisitzer in den Ausschuss der Schiedsrichtergruppe Backnang und kümmert sich um die Neulingsbetreuung. 2009 wird er Stellvertreter des Obmanns, 2012 dessen Nachfolger.

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Erstellt:
3. Februar 2024, 06:00 Uhr

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