Ausstellung „tiefenscharf“: Von der Kupferplatte zum Milchtütendruck

Die neue Ausstellung „tiefenscharf“ im Graphik-Kabinett im Helferhaus zeigt zeitgenössische Radierungen aus der städtischen Sammlung. Die Werke machen deutlich, wie vielseitig die Tiefdrucktechnik ist und wie experimentierfreudig Künstlerinnen und Künstler sie nutzen.

Galerieleiter Martin Schick und Kuratorin Simone Scholten sind selbst erstaunt über die Preziosen, die sie in der städtischen Sammlung des Graphik-Kabinetts entdeckt haben. Foto: Alexander Becher

© Alexander Becher

Galerieleiter Martin Schick und Kuratorin Simone Scholten sind selbst erstaunt über die Preziosen, die sie in der städtischen Sammlung des Graphik-Kabinetts entdeckt haben. Foto: Alexander Becher

Von Melanie Maier

Backnang. Dafür, dass die neue Schau im Backnanger Graphik-Kabinett sich rein auf zeitgenössische Radierungen beschränkt, ist ihre Vielfalt überraschend. Unter dem Titel „tiefenscharf“ sind große und kleine Formate von Künstlerinnen und Künstlern hauptsächlich aus dem süddeutschen Raum vereint. Auf ihnen abgedruckt sind etwa Gebäudefassaden, surreale Traumszenen, fotografisch anmutende Bildkompositionen und Porträts. Die Radierung sei eine Nische der Kunst, die normalerweise eher wenig Öffentlichkeit bekomme, beklagt Martin Schick. Er leitet die Galerie der Stadt, zu der das Graphik-Kabinett gehört. „Die aktuelle Werkschau vermittelt die Freude, die die Künstlerinnen und Künstler an der Technik haben und zeigt, zu welchen Experimenten diese einlädt – auch was die Materialien betrifft“, fügt Kuratorin Simone Scholten beim Rundgang durch die Ausstellung hinzu. „Die Druckvorlagen“, sagt sie, „reichen von Kupfer- über Plexiglasplatten bis hin zur Milchtüte.“ In eine solche hat der 1963 in Saarbrücken geborene und inzwischen in Ludwigsburg lebende Zeichner, Maler und Druckgrafiker Jörg Mandernach das Gesicht einer jungen Frau geritzt. Wohl mit einem Skalpell habe der Künstler die Aluschicht der Milchtüte stellenweise entfernt, um sein Motiv zu kreieren, erklärt Martin Schick. Auf den schwarzen Druck, der auch die Faltenwürfe der Milchtüte mit abbildet, malte Jörg Mandernach mit rosa Farbe das englische Wort „paste“. Das fertige Werk, das erst dieses Jahr entstanden ist, nannte er dann auch „Copy and Paste“, kopieren und einfügen. „Es zeigt, dass Radierungen nicht immer teuer in ihrer Entstehung sein müssen“, kommentiert Martin Schick mit Bezug darauf, dass diese in der Regel durch die Bearbeitung metallener Druckplatten entstehen (siehe Infotext).

Radierungen sollten ursprünglich vor allem dokumentieren und reproduzieren

Auf welchen Pfeilern die Technik steht, wird bereits in dem Raum deutlich, der Ernst Riecker gewidmet ist. Der Backnanger Apotheker initiierte 1870 die Sammlung, die heute dem Graphik-Kabinett gehört. Dort hängen zwei Radierungen an der Wand. Das rechte Bild von Daniel Hopper, entstanden zwischen 1540 und 1550, zeigt drei Goldschmiedearbeiten in Pokal- oder Vasenform mit filigranen Verzierungen. Es handele sich um eine der ersten bekannten Radierungen überhaupt, weiß Simone Scholten. „Hopper kam aus der Goldschmiedekunst, er hatte Erfahrung mit der Bearbeitung von Metall.“ Auf dem zweiten Bild von Richard Earlom (1743 bis 1822), links daneben, ist das Ölgemälde „Der schlafende Bacchus“ des italienischen Barockmalers Luca Giordano als aufwendige Mezzotinto-Radierung reproduziert. Bei dieser Technik wird die Druckplattenoberfläche zumeist mit einem Wiegemesser aufgeraut. „Die beiden Radierungen zeigen, wofür die Technik zu Beginn vor allem genutzt wurde: Um Goldschmiedearbeiten für die Werkstätten zu dokumentieren und um die Gemälde großer Meister zu archivieren und damit einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen“, so Simone Scholten.

An diese Ursprünge erinnern viele der Werke in den anderen Ausstellungsräumen kaum mehr. Die Drucke von Moritz Baumgartl etwa, der 1934 im tschechischen Frühbuß geboren wurde und lange Professor an der Stuttgarter Kunstakademie war, haben zwar die Präzision mit Earlom und Hopper gemein. Inhaltlich aber schlägt Moritz Baumgartl eine völlig unterschiedliche Richtung ein. „Er taucht häufig in surreale Traumwelten ein, die schwer zu deuten sind“, sagt Martin Schick. Auf dem 1975 geschaffenen Bild „Der Beobachter im Bad“ zum Beispiel schaut eine überlebensgroße Taube hinter einer Hecke zwei nackten Frauen im Pool beim Schwimmen zu.

Fotos der 1920er-Jahren dienen der Künstlerin Jenny Scobel als Vorlage. Foto: Jenny Scobel

Fotos der 1920er-Jahren dienen der Künstlerin Jenny Scobel als Vorlage. Foto: Jenny Scobel

Bei den Arbeiten von Wolfgang Gäfgen dagegen könnte man zunächst meinen, eine Fotografie statt einen Druck vor Augen zu haben. Der 1936 in Hamburg geborene Künstler lehrte ebenfalls in Stuttgart, wo er auch studiert hatte. Seine in wochenlanger Arbeit hergestellten Werke seien vielleicht ein Zeichen gegen die schnelle gestische Malerei der 70er-Jahre, vermutet Scholten.

Echte Fotografien, vor allem aus den 1920er-Jahren, dienen der 1955 in Ohio, USA, geborenen Malerin und Grafikerin Jenny Scobel als Vorlage. Recht abstrakt sind wiederum die Kaltnadel-Radierungen „Megawatt“ (2013) und „Megawatt“ (2014) des Backnanger Künstlers und Vorsitzenden des Heimat- und Kunstvereins Ulrich Olpp, die Assoziationen zu Strommasten wecken.

Was ist eine Radierung?

Radierung Die Radierung ist eine Tiefdrucktechnik, die parallel mit der industriellen Papiererzeugung im frühen 16. Jahrhundert aufkam. Ihr Name leitet sich von Lateinisch radere (kratzen, entfernen) ab. Die zwei bekanntesten Spielarten sind die Ätzradierung (chemische Technik) beziehungsweise die Kaltnadelradierung (mechanische Technik). Bei der Ätzradierung wird eine Metallplatte mit einem speziellen Lack bestrichen. Mit der Radiernadel wird das Motiv in die Lackschicht geschabt. Anschließend wird die Platte in ein Säurebad getaucht. Die Säure ätzt die Linien dort ein, wo der Lack eingeritzt wurde. So entsteht eine Druckplatte. Bei der Kaltnadelradierung wird eine Zeichnung unter Kraftaufwand mit einer Radiernadel oder anderen Werkzeugen direkt in die Druckplatte eingeritzt. Die Techniken können kombiniert werden. Beim Druck selbst kann mit einer oder mehreren Druckplatten gearbeitet werden.

Ausstellung Die Werkschau „tiefenscharf“ ist bis zum 10. März im Graphik-Kabinett im Backnanger Helferhaus zu sehen. Dieses ist dienstags bis freitags von 16 bis 19 Uhr, samstags von 11 bis 18 Uh, sonntags von 14 bis 18 Uhr geöffnet. Der Eintritt ist frei. Begleitend zur Ausstellung werden Workshops und Führungen angeboten. Alle Termine stehen unter https://t1p.de/radierung.

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Erstellt:
11. November 2023, 11:00 Uhr

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