Neu im Kino

Intellektuelle Provokationen

Im Kino-Kammerspiel „Leibniz – Chronik eines verschollenen Bildes“ lässt Edgar Reitz einen revolutionären Vordenker zu Wort kommen.

Edgar Selge als Gottfried Wilhelm Leibniz und Aenne Schwarz als Aaltje van de Meer

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Edgar Selge als Gottfried Wilhelm Leibniz und Aenne Schwarz als Aaltje van de Meer

Von Kathrin Horster

Bibbernd tritt Sophie Charlotte, Königin von Preußen (Antonia Bill), aus dem Schatten ins Licht. Einsam sei sie am Hof, vertraut sie dem auf sie gerichteten Kameraauge an, trotz ihrer kullernden Tränen um Fassung bemüht. Bis zu ihrem Umzug vom heimischen Hannover nach Potsdam war Charlotte viel mit ihrem Mentor Gottfried Wilhelm Leibniz zusammen. Nun vermisst sie die Gespräche und bittet ihre Mutter, Kurfürstin Sophie von der Pfalz (Barbara Sukowa), ihr ein Porträt des gemeinsamen Freundes zu schicken.

Mit diesem Herrn Leibniz, so viel ist klar, ist nicht der Erfinder des Butterkekses gemeint, sondern ein legendärer Universalgelehrter und Vordenker, geboren in der Mitte des 17., gestorben im frühen 18. Jahrhundert. Mathe-Genies kennen die nach ihm benannte Leibniz-Formel und dessen Vorstöße in die für die Informatik grundlegende Dyadik, heute als Dualsystem bekannt. Ohne Leibniz’ Matrix aus Nullen und Einsen wären moderne Computer arbeitslos, bei Leibniz steht die Eins allerdings noch für Gott und die Null für das Nichts. Leibniz’ breites Wissen über Philosophie, Mathematik, Rechtswissenschaft und Technik ist heute exklusiver Denkstoff für Nerds und Bücherwürmer, nichts, was sich mal so eben zwischen zwei Bieren vermitteln ließe. Trotzdem versucht der Filmemacher Edgar Reitz, dem Innovator im Kammerspiel „Leibniz – Chronik eines verschollenen Bildes“ ein filmisches Denkmal zu bauen.

Dialoglastig und handlungsarm

Als historischer Kostümschinken, der Stationen dieses Lebens aneinanderreiht wie ein bebilderter Wikipedia-Artikel, ließe sich Leibniz’ Biografie locker verfilmen. Mit Blick auf eine einigermaßen publikumswirksame Vermarktung wäre diese Strategie wohl klüger gewesen. Der 92-jährige Edgar Reitz fabuliert mit seinem Co-Regisseur Anatol Schuster aber lieber dialoglastig und handlungsarm von einer fiktiven, mehrmonatigen Episode im Jahr 1704, in der sich Leibniz (Edgar Selge) für seine einsame Freundin malen lässt und mit seinen Porträtisten philosophische Gespräche führt.

Als Erster versucht sich der höfische Kunstmaler Pierre-Albert Delalandre (Lars Eidinger) an der Aufgabe, Leibniz auf die Leinwand zu bannen. Die Figur ist erfunden, repräsentiert aber eine damals gängige Auffassung in der Kunst, die vor allem die Macht und Stärke von Würdenträgern für die Nachwelt in idealisierten Porträts verherrlicht.

Delalandre kommt mit vorgefertigten Leinwänden nach Hannover, die noch gesichtslose, von teuren Stoffen und aufgetürmten Perücken verhüllte Silhouetten zeigen, wovon eine um Leibniz’ Konterfei ergänzt werden soll. Lars Eidinger gibt Delalandre lustvoll als grelle Karikatur eines halb gebildeten Schnösels in rotem Brokatrock und mit lächerlicher Minipli-Perücke auf dem Kopf, der sich ruck, zuck von Leibniz’ intellektuellen Provokationen auf die Palme bringen lässt. Delalandre wirft hin und macht Platz für Aaltje van de Meer (Aenne Schwarz), eine in Delft ausgebildete Malerin, die sich der Schicklichkeit halber in Männerkleidern als Finn van de Meer ausgibt. Aaltje vertritt ein zu Delalandre gegensätzliches Kunstideal; statt um Repräsentation und Verherrlichung geht es ihr um den individuellen Charakter, statt um tote Posen um die Facetten mimischen Ausdrucks.

Leibniz’ Ideen zur Logik

Reitz erzählt auch von den damaligen Techniken der Kunst, zeigt, wie aus Pflanzen und Edelsteinen kostbare Pigmente extrahiert werden und wie Aaltje aus Schweinsblasen Tuben zur Weiterverwendung frisch angerührter Farben entwickelt. In den Gesprächen mit Delalandre und Aaltje legt Leibniz Grundzüge seines Denkens dar, so geht es etwa um das Verhältnis vom Subjekt zu seiner Darstellung im Bild. „Ihr wollt ein äußeres Ich, das sich für euch verstellt mit den Fiktionen der Lüge“, konfrontiert Leibniz Delalandre. „Ihr seid kein Freund der Kunst“, ätzt der gekränkte Maler, „aber ein Freund der Wahrheit“, entgegnet ihm Leibniz.

Manches in den Dialogen ist witzig, anderes bleibt statisch, oberflächlich und thesenhaft, ohne dass sich die komplexen Gedanken dahinter auch denjenigen erschließen, die nicht vage vertraut sind mit Leibniz’ Monadologie oder dessen Ideen zur Logik und Metaphysik. Doch es gibt auch zugängliche Passagen, die modern klingen. Dass sich der Mensch zwischen Gut und Übel entscheiden könne, mache seine Freiheit aus, sagt Leibniz einmal. Man kommt ins Grübeln, warum sich heute so viele vermeintlich große Männer ausgerechnet die Freiheit nehmen, das Übel zu wählen. Eine perfekte Welt könne es nicht geben, sagt Leibniz. Sonst wäre der Mensch ja göttlich.

Leibniz – Chronik eines verschollenen Bildes. Deutschland 2025. Regie: Edgar Reitz mit Anatol Schuster. Mit Edgar Selge, Barbara Sukowa, Lars Eidinger. 104 Minuten. Ab 6 Jahren

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Erstellt:
17. September 2025, 11:22 Uhr

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