Neu im Kino: „Stiller“
Ist er es oder ist er es nicht?
Stefan Haupt setzt Max Frischs literarischem Meisterwerk „Stiller“ kein filmisches Meisterwerk entgegen, doch wagt er eine Überraschung. Lohnt sich ein Kinobesuch?
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Paula Beer als Julika Stiller-Tschudy, Albrecht Schuch als James Larkin White. Foto: Studiocanal/epd
Von Martin Schwickert
„Ich bin nicht Stiller“ – mit der kongenialen Verneinung des eigenen Buchtitels beginnt Max Frischs Roman „Stiller“, der bei seiner Veröffentlichung 1954 dem Schweizer Autoren zum literarischen Durchbruch verhalf. Das über 400 Seiten starke Werk, das weitestgehend als Tagebuch aus der Ich-Perspektive erzählt wird, galt schon bald als unverfilmbar. Nun hat es der Schweizer Regisseur Stefan Haupt doch gewagt. Mit der Unerschrockenheit eines erfahrenen Obstgärtners hat er die weitverzweigte Erzählung zurückgeschnitten, die wichtigsten Handlungsstränge und Grundfragen freigelegt und den letzten, kürzeren von zwei Teilen einfach weggelassen. „Stiller“ auf 99 Filmminuten – eigentlich ein Unding, das auf der Leinwand jedoch überraschend gut funktioniert.
Eindeutig identifiziert durch die eigene Frau
Der gern gesehene Albrecht Schuch spielt den vermeintlichen Amerikaner James Larkin White, der bei seiner Einreise in die Schweiz als Anatol Stiller erkannt und verhaftet wird. Der Bildhauer ist vor zwei Jahren spurlos verschwunden und steht unter einem vagen Spionageverdacht. Während der Verhaftete darauf beharrt, dass es sich um eine Verwechslung handelt, sind der Pflichtverteidiger Dr. Bohnenblust (Stefan Kurt) und der Staatsanwalt Rolf Rehberg (Maximilian Simonischek) der festen Überzeugung, dass es sich hier um den vermissten Stiller handelt. Sogar seine Frau Julika (Paula Beer), die aus Paris anreist, identifiziert ihn eindeutig, während ihr Gegenüber standhaft behauptet, sie nie zuvor gesehen zu haben.
Mit ihrem Besuch im Gefängnis beginnt eine lose Folge von Rückblenden, in denen die Beziehung zwischen dem Bildhauer und der Tänzerin vom ersten Kennenlernen bis zum endgültigen Bruch geschildert wird. Als Künstler wird Stiller von Selbstzweifeln zerfressen und gönnt seiner Frau nicht ihren beruflichen Erfolg auf der Ballettbühne. Als Julika an Tuberkulose erkrankt und nach Davos zur Kur gehen muss, flüchtet sich Stiller in eine Affäre mit Sibylle (Marie Leuenberger), die just mit jenem Staatsanwalt verheiratet ist, der White zwei Jahre später vor Gericht bringen will. Ob White nun Stiller ist oder nicht, hält Regisseur Haupt erstaunlich lang in der Schwebe.
In der ersten Filmhälfte wird Anatol Stiller in den Rückblenden von Sven Schelker gespielt, bis die sich ähnelnden Schauspieler in einer Szene miteinander zu verschwimmen scheinen und Albrecht Schuch auch auf der Vergangenheitsebene Stiller spielt.
Tiefer Blick in eine Männerseele – überzeugend gespielt von Albrecht Schuch
Der Kipppunkt befindet sich genau dort, wo sich Stillers egozentrisches Fehlverhalten gegenüber Julika offenbart und klar wird, warum Stiller sich in eine neue Identität geflüchtet hat. Als James White kann er auf sein früheres Verhalten herabblicken, ohne sich die gemachten Fehler selbst eingestehen zu müssen. Haupt konzentriert sich in seinem Film auf den therapeutischen Handlungsstrang und auf eine Männerseele, die über den Umweg der Selbstverleugnung mit sich ins Reine zu kommen versucht. „Ach, ihr Männer. Dass ihr immer so großartig sein wollt“ sagt Sibylle, deren Auftreten zum Katalysator für Stillers späte Selbstakzeptanz wird.
Haupt setzt Frischs literarischem Meisterwerk kein filmisches Meisterwerk entgegen. Visuell ist sein „Stiller“ eher sehr gutes Fernsehen als großes Kino. Aber ihm ist es überzeugend gelungen, einige der interessantesten Aspekte des Romans in eine umsichtige, filmische Form zu bringen und deren zeitlose Relevanz herauszuarbeiten.
Stiller. Schweiz, Deutschland 2025, 99 Minuten, R: Stefan Haupt, mit Albrecht Schuch, Paula Beer, Sven Schelker, ab 12 Jahren
