Architekturnovember Stuttgart

Wie ein Lost Place in ein lebenswertes Zuhause verwandelt wird

An einem vermeintlichen Nicht-Ort in Bad Cannstatt startete der Architekturnovember. Zum Auftakt gab es eine spannende Debatte zur Frage, ob mit der Rettung hässlicher Architektur die Welt besser wird.

War mal ein Büro, wird jetzt in lauter kleine Wohnungen umgebaut – Projekt Lise+Lotte von dem Architekten Axel Humpert  und seinem Büro BHSF Architekten aus Zürich.

© BHSF

War mal ein Büro, wird jetzt in lauter kleine Wohnungen umgebaut – Projekt Lise+Lotte von dem Architekten Axel Humpert und seinem Büro BHSF Architekten aus Zürich.

Von Tomo Pavlovic

Zum achten Mal findet der vom Bund Deutscher Architektinnen und Architekten Baden-Württemberg (BDA) initiierte Architekturnovember statt, mit zahlreichen Veranstaltungen und Diskussionen zum Thema Baukultur. Und weil der Architektur eine gewichtige gesamtgesellschaftliche Verantwortung zukommt, muss sie – um im Bild zu bleiben – ihre aufgebürdeten Traglasten seitens der Politik und Öffentlichkeit neu berechnen.

Frust oder Lust

Ein maßgeblicher dynamischer Faktor bei der Auslegung dieser sensiblen Statik ist der Klimawandel. Der Neubau von Gebäuden verursacht bekannterweise hohe CO2-Emissionen, also liegt es nahe, weniger abzureißen. Doch leichter gesagt als getan. Zum Auftakt des Veranstaltungsreigens lud der BDA zu einer Podiumsdiskussion unter der verheißungsvollen Titelfrage „Gebäudebestand: Last oder Lust?“.

Der Ort der Debatte war klug gewählt: die Schwabenbräu-Passage in Bad Cannstatt. In der Galerie Palermo waren die Sitzplätze schnell besetzt, die Vernissagen und Diskussionen des BDA haben Happening-Charakter, stoßen regelmäßig auf riesiges Interesse.

Aktive Kreativszene

Das Gebäudeensemble in der Bahnhofstraße steht sinnbildlich für die alternative Weiternutzung eines leer stehenden Baus. Nun haben sich zahlreiche Akteure der Kreativszene zusammengefunden, um mit Hilfe des jungen Stuttgarter Architekturbüros Studio Cross Scale ein Konzept für das Bespielen der verödeten Gewerbeflächen zu entwickeln. Mit Erfolg.

Sascha Bauer von Cross Scale stellte in einem Impulsvortrag die wechselvolle Nutzungsgeschichte der Passage vor, erinnerte an die insgesamt 94 Bauanträge für das Reanimierungsprojekt und das damit einhergehende zusätzliche Einbauen von fünf Türen, davon zwei Brandschutztüren, und fertig. „Bauen im Bestand“, sagte Sascha Bauer, „ist Aneignung und Akzeptanz, ist politisch inhomogen, ist multiple Autorenschaft.“

Schlimm fürs Auge, gut fürs Klima

Klingt erst einmal toll, doch leider ist es mit der Akzeptanz und der multiplen Autorenschaft so eine Sache. Hinter einem solchen Projekt steckt viel Arbeit, Kommunikation und Moderation. Doch was man am Ende sieht, das ist keine Signature-Architektur mit genialer Handschrift, sondern zwei Brandschutztüren und tolle Party-Räume mit ranzigem Linoleum-Boden. „Der sieht richtig scheiße aus, er erfüllt aber seinen Zweck“, sagte Bauer. Das ist zwar unästhetisch fürs Auge, aber umso schöner fürs Klima und die Leute.

Bloß: wie sieht es mit dem Honorar für die Planer aus und mit der Akzeptanz in der Gesellschaft? Ist das wirklich Architektur, mögen sich manche fragen. Ja, unbedingt, sagte Axel Humpert aus Zürich, der sich mit seinem Büro BHSF Architekten mit Umbauten in der Schweiz einen Namen gemacht hat. Zwei Beispiele hat er in Wort und Bild mitgebracht, geradezu spektakulär anmutende Sanierungen von Industrieanlagen und Bürobauten, die CO2 sparen und en passant neuen Wohnraum schaffen.

Gute Konstrukteure gesucht

Das Problem aber für die Zunft: Bauen im Bestand erfordert alte Tugenden, Kompetenz wird dringend gesucht. „Wir sind als Planer gefragt, wieder zu konstruieren“, sagte Axel Humpert. „Wie baue ich einen neuen Fensterflügel in einen alten Rahmen ein?“ Zudem müsse man als Architekt viel Zeit in die Berechnung der vorhandenen Grauen Energie stecken, um das Einsparpotenzial zu entdecken. „Wir müssen viel früher in den Planungsprozess einsteigen, der wiederum flexibler werden muss“, forderte Humpert auch von der Baupolitik. „Und diese Arbeit muss auch bezahlt werden.“

Keine Widerworte von Kai Fischer von der Abteilung Vermögen und Hochbau im baden-württembergischen Finanzministerium. Er ist Chef einer Behörde, die 7700 Landesgebäude verwaltet und für die Zukunft fit machen muss. Das Ziel: Bis 2030 soll die Landesverwaltung klimaneutral werden. Fischer, selbst Architekt, berichtete von einem „Wahnsinnsdruck“, sich mit dem Gebäudebestand zu beschäftigen.

Wunsch nach mehr Dialog

Seine Abteilung ist auch ein wichtiger Auftraggeber für Sanierungen und Umbauten. „Ab diesem Jahr vergeben wir in der Regel keine Aufträge mehr für Neubauten“, sagte Kai Fischer. Sein Wunsch: veränderte, stärker dialogbasierte Vergabeverfahren. Die Architekturbüros sollten früher in die Planung einbezogen werden, denn erst mit dem Dialog kämen auch mögliche alternative Nutzungsideen auf. Applaus im Publikum. Und nach diesem gelungenen Einstand konnte die Architekturparty einen Stock tiefer beginnen.

Rauer Charme: Die Schwabenbräu Passage in Stuttgart-Bad Cannstatt. Sie wurde Ende der 80er Jahre erbaut, doch die vielen unterschiedlichen Mieter haben ihre Spuren hinterlassen.

© LICHTGUT/Max Kovalenko

Rauer Charme: Die Schwabenbräu Passage in Stuttgart-Bad Cannstatt. Sie wurde Ende der 80er Jahre erbaut, doch die vielen unterschiedlichen Mieter haben ihre Spuren hinterlassen.

Nach dem Leerstand konnte im Frühjahr dieses Jahres das Gebäudeensemble am geschichtsträchtigen Ort für eine beispielhafte Zwischennutzung freigegeben werden. Treibende Kraft dahinter: die jungen Stuttgarter Architekten von Studio Cross Scale.

© LICHTGUT/Max Kovalenko

Nach dem Leerstand konnte im Frühjahr dieses Jahres das Gebäudeensemble am geschichtsträchtigen Ort für eine beispielhafte Zwischennutzung freigegeben werden. Treibende Kraft dahinter: die jungen Stuttgarter Architekten von Studio Cross Scale.

Das erste Obergeschoss wird von der durch den Gemeinderat geförderten Kulturinitiative Prisma genutzt, die übrigen Etagen werden von anderen Akteuren aus den Bereichen Kultur, Kreativwirtschaft und Soziales bespielt.

© LICHTGUT/Max Kovalenko

Das erste Obergeschoss wird von der durch den Gemeinderat geförderten Kulturinitiative Prisma genutzt, die übrigen Etagen werden von anderen Akteuren aus den Bereichen Kultur, Kreativwirtschaft und Soziales bespielt.

Ein ganz anderes Beispiel für eine alternative Nutzung ist die Sanierung und Umwidmung eines Bürogebäudes in Wohnraum in der Schweiz vom Büro BHSF Architektur & Städtebau Benedikt Boucsein,  Axel Humpert , Tim Seidel.

© BHSF/BHSF

Ein ganz anderes Beispiel für eine alternative Nutzung ist die Sanierung und Umwidmung eines Bürogebäudes in Wohnraum in der Schweiz vom Büro BHSF Architektur & Städtebau Benedikt Boucsein, Axel Humpert , Tim Seidel.

Die Schwierigkeiten liegen auf der Hand: Büroflächen mit großen Fensterflächen müssen möglichst behutsam in helle und hochwertige, kleine  Wohnungen umgewandelt werden.

© BHSF/BHSF

Die Schwierigkeiten liegen auf der Hand: Büroflächen mit großen Fensterflächen müssen möglichst behutsam in helle und hochwertige, kleine Wohnungen umgewandelt werden.

Und auch Badezimmer wie dieses gab es im Büro-Bestand natürlich nicht.

© BHSF

Und auch Badezimmer wie dieses gab es im Büro-Bestand natürlich nicht.

Sascha Bauer von Studio Cross Scale.  Der Stuttgarter Architekt hat die Zwischennutzung der Schwabenbräu Passagen realisiert.

© SaschaBauerMedia/SaschaBauerMedia

Sascha Bauer von Studio Cross Scale. Der Stuttgarter Architekt hat die Zwischennutzung der Schwabenbräu Passagen realisiert.

Nachhaltige Nachverdichtung in der Stadt: Dachaufbau in einem Haus aus der Gründerzeit in Stuttgart. In den unteren Etagen hat der Architekt Sascha Bauer Geschäftsräume zu Wohnungen umgestaltet.

© Studio Cross Scale/Studio Cross Scale

Nachhaltige Nachverdichtung in der Stadt: Dachaufbau in einem Haus aus der Gründerzeit in Stuttgart. In den unteren Etagen hat der Architekt Sascha Bauer Geschäftsräume zu Wohnungen umgestaltet.

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Erstellt:
27. Oktober 2023, 14:58 Uhr
Aktualisiert:
27. Oktober 2023, 20:01 Uhr

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