Neu im Kino: „Die My Love“

Zwischen Stillen und Sex

Das Psychodrama „Die My Love“ ist ein cineastisches Kunstwerk. Und Jennifer Lawrence spielt sich an der Seite von Robert Pattinson als verzweifelte Frau in die höchste Darsteller-Liga.

Isolation und Vernachlässigung treiben Grace (Jennifer Lawrence) langsam, aber sicher in den Wahnsinn.

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Isolation und Vernachlässigung treiben Grace (Jennifer Lawrence) langsam, aber sicher in den Wahnsinn.

Von Martin Schwickert

Ungerührt wie ein angestaubtes Möbelstück steht die Kamera im Flur des verlassenen Hauses, als das junge Paar die Räumlichkeiten betritt. Ihre Gesichter sind zunächst nicht zu erkennen. Man sieht nur die Silhouetten ihrer Körper, hört ihre Stimmen und Schritte, während die beiden das neue Heim in Besitz nehmen. Grace (Jennifer Lawrence) und Jackson (Robert Pattinson) sind in die tiefste Provinz gezogen, um das Haus zu beziehen, das Jackson von seinem Onkel geerbt hat. Hier könne sie endlich ihren Roman schreiben und er sein nächstes Album aufnehmen, preist Jackson die etwas heruntergekommene Immobilie an. Auf die Frage, wie der Onkel gestorben sei, weicht der Neffe aus. Erst später wird man erfahren, dass der Verstorbene sich hier mit einem Gewehr erschossen hat.

Eigentlich beginnt Lynne Ramsays „Die My Love“ wie eine typische Haunted-House-Story, in denen sich ahnungslose Städter auf der Suche nach ländlicher Idylle in einem finsteren Geisterhaus wiederfinden. Aber hier sind es nicht untoten Seelen der Vorbesitzer, die dem jungen Paar das Leben schwer machen. Das sich steigernde Unbehagen im Film nährt sich von den selbst gestalteten Lebensumständen der frischgebackenen Besitzer. Nachdem das junge Paar das verlassene Haus erst einmal mal mit leidenschaftlichem Sex auf dem Dielenboden eingeweiht hat, steht in der nächsten Szene dieses äußerst akzentuiert geschnittenen Filmes schon eine Babywippe auf der Veranda. Draußen schleicht Grace auf allen vieren wie eine Raubkatze mit einen Küchenmesser in der Hand durch das hohe Gras. Die Geburt des Kindes ist ihr und der Beziehung zu Jackson nicht gut bekommen. Was im deutschen verniedlichend als Wochenbettdepression bezeichnet wird, weitet sich hier für Grace zu einer tiefgreifenden postpartalen Lebenskrise aus.

Im Gefängnis des Mutterdaseins

Während Jackson von seinem Job außerhalb oft erst spät in der Nacht heimkommt, ist Grace allein mit dem Kind in dem Haus, das idyllisch, aber einsam am Waldrand gelegen ist. Ein längerer Fußmarsch mit Kinderwagen führt entlang der Landstraße zum einzigen Laden sowie zum Haus der Schwiegermutter Pam (Sissy Spacek), die vor Kurzem ihren dementen Ehemann Harry (Nick Nolte) verloren hat.

Aber es ist nicht nur die geografische Isolation und die Anstrengung der ungewohnten Mutterrolle, die Grace zunehmend in die Depression treiben. Genauso leidet sie an der sexuellen Vernachlässigung durch ihren Lebensgefährten, dessen Verlangen nach der Geburt deutlich nachgelassen hat und im schmerzenden Kontrast zu ihrem mächtigen Begehren steht.

Wie ein Raubtier im Käfig bewegt sich Grace durch das Gefängnis des Mutterdaseins. Aus Verzweiflung kratzt sie mit bloßen Fingernägeln den Putz von den Wänden, masturbiert im Suchtmodus, stiehlt sich nach dem Stillen nachts in die Wälder und hat sexuelle Erlebnisse mit einem behelmten Motorradfahrer, der vielleicht nur eine Traumgestalt ist.

Trigger-Warnung!

Mit hundertprozentiger Subjektivität steht „Die My Love“ an der Seite der jungen Frau, die an sich selbst, ihrer Rolle als Mutter, an ihrem Partner und der gesellschaftlichen Isolation zunehmend verzweifelt. Es ist ein radikales Konzept weiblicher Emotionalität, das die schottische Regisseurin Ramsay („A Beautiful Day“) mit allen zur Verfügung stehenden filmischen Gestaltungsmitteln vorantreibt und zu einem äußerst immersiven Kinoerlebnis ausbaut. Die Depression der Hauptfigur wird hier nicht mit dunklen Tableaus bebildert, sondern mit ausgebleichten Farben, durch welche die idyllische Naturkulisse oft mit schmerzender Helligkeit somnambul verfremdet wird. Das Sounddesign passt sich der verzerrten oder übersteuerten Wahrnehmung der Protagonistin an. Das stetige Bellen des jungen Hundes, den Jackson zur Belustigung der vereinsamten Ehefrau mit nach Hause bringt, treibt einen auch im Kinosessel fast in den Wahnsinn.

Vor allem aber wird die radikale Subjektivität des Films durch die vollkommen furchtlose Darstellung von Jennifer Lawrence über zwei durchaus anstrengende Kinostunden getragen. Der „Tribute von Panem“-Darstellerin hat es nie an Leinwandcharisma gefehlt, aber mit diesem Film katapultiert sich Lawrence in eine ganz andere Liga. Mit Verve, aber ohne Overacting stürzt sie sich in diese Rolle, die Depression nicht mit Fatalismus verwechselt und die ins Leere laufende Lebensgier ihrer Figur fassbar macht. Ob sie das Badezimmer in Trümmer legt oder mit einem leeren, kalten Blick in die Kamera schaut, der ganze Weltmeere vereisen könnte – in jeder Szene lotet Lawrence die widersprüchlichen, seelischen Facetten ihrer Figur mit empathischer Unbarmherzigkeit aus.

„Die My Love“ , dessen Titel die dramatische Abwärtsspirale bereits andeutet, ist alles andere als ein leicht verdaulicher Film, dessen Trigger-Warnungen von Betroffenen unbedingt ernst genommen werden sollten. Gleichzeitig ist er ein echtes, cineastisches Kunstwerk, das sich seinem Sujet mit unwiderstehlicher Kompromisslosigkeit verschreibt.

Die My Love. Großbritannien, USA 2025. Regie: Lynne Ramsay. Mit Jennifer Lawrence, Robert Pattinson, Sissy Spacek, Nick Nolte. 118 Minuten. Frei ab 16 Jahren.

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Erstellt:
12. November 2025, 15:10 Uhr

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