Ärzte sehen Schließung der Notfallpraxis Backnang als Akt der Vernunft

Im Raum Backnang bedauern viele Ärzte die angekündigte Schließung der Notfallpraxis, betrachten sie aber zugleich als notwendigen Schritt, um den Mangel an Hausärzten nicht weiter zu verschärfen. Die Inanspruchnahme der Notfallpraxis sei zudem oftmals nicht angemessen.

Der Hausarzt Wolfgang Steinhäußer ist nicht nur Geschäftsführer und Vorsitzender der Backnanger Notfallpraxis, sondern hat diese vor über zehn Jahren auch initiiert und federführend mit aufgebaut. Foto: Alexander Becher

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Der Hausarzt Wolfgang Steinhäußer ist nicht nur Geschäftsführer und Vorsitzender der Backnanger Notfallpraxis, sondern hat diese vor über zehn Jahren auch initiiert und federführend mit aufgebaut. Foto: Alexander Becher

Von Kai Wieland

Backnang. „Mir müsste die Schließung eigentlich am meisten wehtun“, sagt Wolfgang Steinhäußer, Vorsitzender und Geschäftsführer der Backnanger Notfallpraxis. Damals gestaltete er als Ärzteschaftsvorsitzender die Einrichtung und den Aufbau der Backnanger Notfallpraxis federführend mit. „Ich sage immer, es ist mein Baby“, so der Mediziner, der seit 2000 in Backnang als Hausarzt tätig ist. „Aber die Schließung ist ein Akt der Vernunft.“ Die Maßnahme sei durch ein Urteil des Bundessozialgerichts über die Anstellungspflicht für Poolärzte zwar beschleunigt worden, letztlich handle es sich aber um die unvermeidliche Folge einer Entwicklung, die schon vor mehr als zehn Jahren eingesetzt habe. „Die große Überschrift ist für uns der Ärztemangel“, betont Steinhäußer.

Wie dieser zustande kommt, ist ein eigenes, vorwiegend bundespolitisches Thema, das sich in der Konsequenz aber auch im Raum Backnang spürbar niederschlägt. „Wir haben hier einen Versorgungsgrad von etwa 80 Prozent, ideal wären 110 Prozent“, erklärt der Arzt. „Für deutsche Verhältnisse sind wir ein Hausarztnotstandsgebiet.“ Und es ist gerade das Fehlen von Hausärzten, welches sich massiv auf die Organisation des Notdiensts auswirkt.

Viele Hausärzte und Internisten übernehmen zusätzliche Dienste

Das Urteil des Bundessozialgerichts hatte auf die Backnanger Notfallpraxis eine vergleichsweise geringere Auswirkung als auf viele andere Notfallpraxen, da hier ohnehin bereits ein Großteil der Dienste von der ansässigen Ärzteschaft und nicht von Poolärzten geleistet wurde. „Wir hatten zwei, drei intensive Poolärzte, die sehr viele Dienste gemacht haben, aber in der Masse wurde der Dienst zu 80 Prozent von der Ärzteschaft hier organisiert“, erklärt Petra Kotzan. Die Hausärztin aus Aspach ist die Dienstplanerin der Backnanger Notfallpraxis und weiß daher genau, wie sich die Rahmenbedingungen im Notdienst in den vergangenen Jahre entwickelt haben. Wichtig ist dabei zu wissen, dass in Baden-Württemberg alle niedergelassenen Ärzte zum Notdienst verpflichtet sind. Das gilt auch für Fachgruppen, die in ihrem Alltag keinen oder nur wenig Kontakt mit der hausärztlichen Versorgung von Patienten haben – im Raum Backnang gelte das etwa für Radiologen oder Psychotherapeuten, so Kotzan. „Einmal im Jahr werden dann alle in einem Pool erfasst und es wird statistisch ausgerechnet, wie viele Dienste jeder Einzelne pro Jahr leisten muss.“ Derzeit seien das sieben Werktagsdienste und drei Wochenenddienste.

Viele Hausärzte übernehmen die Dienste der Fachärzte

„Das hört sich zunächst mal wenig an“, sagt Petra Kotzan selbst. Weil die besagten Fachgruppen für den Notdienst, in dem es vorrangig um hausärztliche Versorgung geht, aber oft weniger geeignet sind, ist es gängige Praxis, dass die ansässigen Hausärzte deren Dienste – gegen einen „kleinen Obolus“, wie es Steinhäußer nennt – übernehmen. „Ich vertrete drei Frauenärzte“, erklärt Petra Kotzan, deren Anzahl an Diensten sich entsprechend multipliziert. Genauso ist es bei Wolfgang Steinhäußer, der drei Gynäkologen und Chirurgen vertritt. Dazu kommen die Einsätze im nächtlichen Fahrdienst.

Während die Zahl der Ärzte allgemein in den vergangenen 20 Jahren leicht zurückgegangen sei, stelle man durch die noch deutlicher sinkende Zahl von Hausärzten eine Verschiebung im Verhältnis von Facharztgruppen zu Hausärzten und Internisten fest, erklärt Petra Kotzan. Folglich erhöht sich die Zahl der Dienste, die jeder einzelne Hausarzt leisten muss, um das System aufrechtzuerhalten. „Das ist das Kernproblem“, stellt die Ärztin fest.

Viele Patienten sind kein Fall für die Notfallpraxis

Dieser Unwucht trage die Kassenärztliche Vereinigung mit ihrer Entscheidung, die Notfallpraxen im Land zu reduzieren, Rechnung, verteidigt Wolfgang Steinhäußer deren Vorgehen. „Wenn man den immer weniger werdenden Hausärzten immer mehr Dienste zumutet, dann wollen die Jüngeren nicht mehr Hausarzt werden. So haben wir in zehn Jahren noch weniger Hausärzte.“ Die Schließung von Notfallpraxen sei insofern als Investition in die Zukunft zu verstehen und eine weitsichtige Entscheidung.

Lesen Sie hier: Das sagt der Pressesprecher der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg zur Schließung der Notfallpraxis

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Analog zur gesellschaftlichen Entwicklung legt Steinhäußer zufolge auch bei den Ärzten die jüngere Generation größeren Wert auf eine gesunde Work-Life-Balance. Junge Ärzte schrecke eine eigene Praxis mit den damit verbundenen Belastungen oft ab und sie entschieden sich daher für eine Anstellung. Ein angestellter Arzt erhöht zwar die Dienstverpflichtung für die jeweilige Praxis, aber oftmals ist es der anstellende Arzt, welcher die anfallenden Dienste leistet, um überhaupt Mitarbeiter zu gewinnen.

Die Arbeitsbelastung variiert stark

Stephan Schönfeld führt eine Hausarztpraxis in Murrhardt. Er absolviere etwa 20 Notdienste im Jahr für sich und seine angestellten Ärzte, erklärt er. Die Arbeitsbelastung variiere je nach Tag stark, doch besonders die Sonntagsdienste von acht bis 20 Uhr mit teils über 100 Patienten sowie die Nachtdienste seien oft stressig. „Ich arbeite bis 18 Uhr, habe dann nachts vielleicht zwei Notrufe und stehe am nächsten Morgen um acht Uhr wieder in der Praxis“, schildert er die Situation. „Es ist gar nicht so selten, dass ich um zwei Uhr nachts zu einem Patienten in Weissach im Tal muss, um halb vier wieder in Murrhardt bin und dann einen Anruf aus Kirchberg an der Murr bekomme.“

Nicht zuletzt weil der Fahrdienst bestehen bleibt, wenngleich es auch hier zu einer Reduzierung des Angebots kommen dürfte, vertritt Steinhäußer den Standpunkt, dass mit der Schließung keine faktische Verschlechterung der medizinischen Versorgung einhergehe. Der Weg nach Winnenden sei nicht weit und es gehe nicht um Sekunden, dafür gebe es schließlich den Notarzt. Im Gegenteil sei es so, dass 90 Prozent der Patienten eigentlich gar nicht in die Notfallpraxis gehörten. „Wir haben kein Versorgungsproblem, sondern ein Inanspruchnahmeproblem“, meint er.

Menschen ohne Hausarzt nutzen die Notfallpraxis als Sprechstunde

„In den vergangenen drei Jahren ist es verstärkt so, dass wir in den Anfangsstunden Patienten treffen, die eigentlich haus- oder fachärztlich behandelt werden müssten“, bestätigt Stephan Schönfeld. Menschen, die aus den unterschiedlichsten Gründen keinen Hausarzt haben, nutzen die Notfallpraxis als Sprechstunde, um ihre Regelmedikation zu erhalten.

Für den ländlichen Bereich bedauert Schönfeld die Schließung der Backnanger Notfallpraxis dennoch. „Es ist eigentlich ein tolles Instrument für eine relativ wohnortnahe gute Versorgung. Gerade für die Älteren unter meinen Patienten werden die Strecken schon lang.“ Dennoch betrachtet auch er die Schließung als zwangsläufigen weiteren Schritt unter dem Eindruck des Ressourcenmangels. Vor allem aber hadert der seit 2019 in Murrhardt niedergelassene Arzt mit der Bürokratie, welche Hausärzten auferlegt werde. „Wenn ich aufsummiere, wie viel ich mittlerweile mit Krankenkassenanfragen beschäftigt bin, sind das bald zwei Tage in der Woche“, sagt er. „Das könnte man eigentlich super in den Notdienst stecken.“

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Erstellt:
18. April 2024, 06:00 Uhr

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