Atommacht Europa?
Die Europäer brauchen einen eigenen nuklearen Schutzschirm. Das kann kein Tabu bleiben.
Von Armin Käfer
Stuttgart - Wie ist es um Europas Fähigkeit zur Selbstverteidigung bestellt? Die Frage drängt sich aus zwei Gründen auf. Erstens ist die Aggressivität Wladimir Putins täglich in der Ukraine zu besichtigen. Der Kreml-Herrscher schreckt auch nicht vor Drohungen mit Atomwaffen zurück. Zweitens offenbart die Wankelmütigkeit des US-Präsidenten Donald Trump, dass die Schutzmacht Amerika nicht mehr so verlässlich ist, wie wir es über Jahrzehnte gewohnt waren.
Die Deutschen und ihre Regierung sind sich aber noch nicht einmal einig, was nötig wäre, um sich selbst zu verteidigen. Das dokumentieren der Dissens in Sachen Wehrpflicht und die tiefe Uneinigkeit der mitregierenden Sozialdemokraten in Fragen von Krieg und Frieden. Milliardenkredite für konventionelle Aufrüstung sind im Atomzeitalter allenfalls ein Trostpflaster. Wir können uns nicht länger vor dem heikelsten Aspekt der Verteidigungspolitik drücken: Braucht Europa eigene Souveränität bei der atomaren Abschreckung?
Die Hysterie, die ein entsprechender Denkanstoß des Vorsitzenden der Unionsbundestagsfraktion, Jens Spahn, ausgelöst hat, spricht für sich. Nun ist Spahn keiner, dem man Entscheidungsbefugnisse in solchen Fragen anvertrauen möchte. Zudem hat er im Moment andere Sorgen. Es wäre allerdings fahrlässig, das von ihm angesprochene Thema länger zu ignorieren. Probleme lassen sich nicht aus der Welt schaffen, indem man sich weigert, auch nur darüber nachzudenken.
Europa hat theoretisch drei Optionen, um sich auch gegen atomare Angriffe zu wappnen. Zum einen: Frankreich, nach dem Brexit die einzige verbliebene europäische Atommacht, könnte seinen nuklearen Schutzschirm auf den Rest Europas ausdehnen. Die zweite Option ist bisher ein Tabu: Deutschland könnte selbst Atomwaffen entwickeln und zu einer atomaren Schutzmacht Europas aufsteigen. Als drittes bleibt das Prinzip Hoffnung: Wir könnten auch darauf vertrauen, dass auf Trumps Nachfolger in den USA dereinst wieder uneingeschränkt Verlass ist.
Alle drei Optionen bergen ihre Tücken. Die dritte erscheint eher unwahrscheinlich. Gegen die zweite sprechen immense, auch historisch bedingte Widerstände in der deutschen Gesellschaft. Sie verstieße zudem sowohl gegen den Zwei-plus-Vier-Vertrag, der die Wiedervereinigung ermöglicht hat, als auch gegen den Atomwaffensperrvertrag. Sich darüber hinwegzusetzen wäre eine (un)diplomatische Provokation – ein Vorwand für atomares Wettrüsten.
Der französische Präsident Emmanuel Macron hat Deutschland schon vor Jahren eine Kooperation bei der atomaren Verteidigung angeboten. Allerdings wären dazu viele Fragen zu klären: Wie lässt sich die Force de Frappe, Frankreichs Atomwaffenarsenal, zeitgemäß modernisieren? Bisher verfügt Deutschlands Nachbar vor allem über strategische, aber kaum über taktische Atomwaffen. Für eine glaubhafte Abschreckung wären beide Waffengattungen nötig. Wer drückt im Ernstfall auf den Atomknopf? Dieses Vorrecht wird kein französischer Präsident jemals aus der Hand geben. Wäre Frankreich im Ernstfall wirklich bereit, seine Atomwaffen auch für Verbündete einzusetzen? Und was passiert, wenn jenseits des Rheins eines Tages wie in den USA Rechtspopulisten am Ruder sind?
Für einen Dialog über all diese Fragen wäre es höchste Zeit – auf diplomatischer Ebene wie auch im eigenen Land. Sicherheit hat in Zeiten des wiedererwachten Imperialismus einen immens gestiegenen Preis. Der ist nicht nur in Euro-Milliarden zu beziffern. Er verlangt auch, politische Tabus und Denkblockaden zu überwinden.