Backnanger lieben offenes Bücherregal

Vor zehn Jahren initiierte der damalige Erste Bürgermeister Michael Balzer das Projekt, gemeinsam mit der Bürgerstiftung Backnang und vielen freiwilligen Helfern.

Rosemarie Schütz (von links), Christiane Balzer und Annedore Bauer-Lachenmaier (hinten) kümmern sich als Bücherpatinnen ehrenamtlich um das Regal. Foto: A. Becher

© Alexander Becher

Rosemarie Schütz (von links), Christiane Balzer und Annedore Bauer-Lachenmaier (hinten) kümmern sich als Bücherpatinnen ehrenamtlich um das Regal. Foto: A. Becher

Von Anja La Roche

Backnang. Es ist ein normaler Arbeitstag bei kaltem, regnerischem Novemberwetter. Und trotzdem steht man nicht lange alleine am offenen Bücherregal, das sich am Obstmarkt in der Backnanger Altstadt befindet. Immer wieder kommen einzelne Leute vorbei, mal stehen gleich drei Personen gleichzeitig davor. Martin Birkle aus Allmersbach im Tal nimmt einen Krimi aus dem Regal und liest sich den Klappentext durch. Dann stellt er ihn zurück. „Ich mag ja Lokalkrimis sehr gerne“, sagt er. „Aber ich nehm nur solche Bücher mit, die ich im Bett lesen kann.“ Das Buch ist ihm nicht sauber genug. Dafür wird der Mann kurz darauf fündig: ein dickes gebundenes Buch des Satirikers Ephraim Kishon. Froh über den Fund, steckt Birkle das Buch in seinen Beutel.

Ein offenes Bücherregal ist prädestiniert für die Bücherstadt Backnang

Ein paar Minuten und drei büchersuchende Personen später erscheinen diejenigen, die das offene Bücherregal ermöglicht haben und sich darum kümmern: Ulrich Schielke, Vorsitzender der Bürgerstiftung Backnang, Michael Balzer, ehemaliger Erster Bürgermeister der Stadt, sowie vier von insgesamt neun Bücherpaten. Diese schauen ehrenamtlich darauf, dass das Bücherregal ordentlich geführt wird. Gemeinsam blickt das Bücherregalteam nun auf zehn Jahre zurück, berichtet von positiven und negativen Erfahrungen des Projekts und welche Idee dahintersteht.

Für Ulrich Schielke ist das offene Bücherregal ein „Leuchtturmprojekt der Stadt“; es sei das längste und erfolgreichste Projekt der Bürgerstiftung. Und Backnang als Bücherstadt sei dafür prädestiniert. Michael Balzer hörte damals in seiner Funktion als Erster Bürgermeister von dem Konzept und fuhr daraufhin mit einer Gruppe von Backnangern in die Stadt Wiesloch, um sich ihr offenes Bücherregal anzuschauen. „Damals war Baden-Württemberg nur mit Tupfen bedeckt. Heute gibt es im Land mehr als 29 offene Bücherregale“, erzählt Balzer. Begeistert von dem Regal in Wiesloch wandte er sich an die Bürgerstiftung, die das Projekt als lohnenswert erkannte und es von da an finanzierte.

Die Rektorin der Plaisirschule Annedore Bauer-Lachenmaier und Christiane Balzer waren von Anfang an bei der Umsetzung des Projekts dabei. „Wir sind damals durch die ganze Stadt gelatscht, um den perfekten Standort zu finden“, erzählt Bauer-Lachenmaier. Der gefundene Standort hat sich bis heute bewährt. Mitten in der Altstadt, vor dem Café Weller, steht das Regal leicht zugänglich und sichtbar, sodass viele Leute das Regal passieren, wenn sie ihre Einkäufe erledigen.

„Für die Umsetzung brauchten wir starke Partner“, sagt Michael Balzer und lobt besonders die Schüler und Lehrer der gewerblichen Schule in Backnang für ihre damalige Hilfe beim Regalbau. Am 14. Oktober 2011 war es so weit: Das Leitungsteam der Literatour gab einen Sketch zum Besten, verschiedene Stifter bestückten das Regal mit ersten Exemplaren und die Zweitklässler und der Unterstufenchor der Plaisirschule sorgten für musikalische Untermalung. Das offene Bücherregal war eingeweiht — vorerst als Experiment der Stadtgemeinschaft.

Ein- bis zweimal täglich schaut einer der Bücherpaten beim Regal vorbei

Und was zeigen zehn Jahre Experiment? Am besten müssen es die Bücherpaten wissen. Ein- bis zweimal täglich geht einer von ihnen bei dem offenen Bücherregal vorbei, um nach dem Rechten zu sehen. Sie kontrollieren, ob die Bücher einreihig stehen, ob sie inhaltlich okay sind, das heißt frei von Gewaltverherrlichung und Pornografie, und ob sie einigermaßen sauber und unversehrt sind.

Rosemarie Schütz, Bücherpatin seit über drei Jahren, weiß um die Herausforderung, die das Ehrenamt mit sich bringt: Manche Menschen entrümpeln ihr Zuhause, stellen stapelweise ausrangierte Bücher in das Regal und stopfen es dadurch voll. Darunter sind oft Bücher, die schlechte Qualität haben. Besonders schlimm sei das Anfang des ersten Lockdowns gewesen. „Ich habe schon ganze Reihen veralteter Lexika im Regal vorgefunden“, erzählt Schütz. „Ohne Auto kann das echt zu viel sein.“ Dem Bücherpaten Caesare Masullo fällt in diesem Zusammenhang ein, dass er bereits des Diebstahls bezichtigt wurde, als er eine große Menge ungeeigneter Bücher aus dem Regal in seinen Kofferraum lud. Die meisten Leute würden jedoch positiv auf das Engagement der Paten reagieren.

Christiane Balzer kümmert sich besonders oft um das Regal, eigentlich immer, wenn sie daran vorbeiläuft. Für sie als Bücherwurm ist es das ideale Ehrenamt. Bauer-Lachenmaier pflichtet bei und ergänzt: Es sei eine Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft. Zudem trenne man sich leichter von eigenen Büchern und komme an Nachschub und Inspiration. „Ich habe Bücher gefunden, die ich mit 20 gelesen habe, wie zum Beispiel ein Roman von Pearl S. Buck.“ Die anwesenden Bücherkenner schmunzeln beim Namen dieser Autorin. „Das würde ich jetzt eigentlich nicht mehr lesen, aber ich habe mich gefragt, was mich damals interessiert hat“, so Bauer-Lachenmaier. Schütz fügt hinzu: „Ich möchte durch mein Ehrenamt auch Menschen zum Lesen animieren, besonders Schüler.“

Gute Gespräche am Bücherregal

Dass manche Menschen ihren Ramsch im Regal abladen oder unerwünschte Zeitschriften statt Bücher vorbeibringen, ist ärgerlich — nichtsdestotrotz läuft das Projekt wunderbar. „Der Umschlag ist sehr hoch. Nach etwa einer Woche sind alle Bücher einmal ausgetauscht“, schätzt Stiftungsvorsitzender Schielke. Vandalismus gebe es keinen. Und die Bedeutung des offenen Bücherregals sollte keinesfalls unterschätzt werden. Denn es ist nicht nur eine Leseeinladung für jedermann, egal welchen Alters, welcher Herkunft oder wie viel Geld auf dem Konto ist. Es ist auch ein Ort der Begegnung.

Auch nach dem Gespräch mit dem Bücherregalteam stehen mehrere Menschen stöbernd vor dem Regal. Darunter die Backnangerin Brigitte Bahr-Heinisch. „Ich komme hier immer vorbei, wenn ich einkaufen gehe“, sagt sie. „Hier kommt man oft ins Gespräch mit anderen und tauscht sich darüber aus, was man empfehlen kann.“ Die Frau entdeckt sogleich eines ihrer vielen Lieblingsbücher im oberen Regalfach: „Schutzpatron“ von Michael Kobr und Volker Klüpfel. Wer zuerst kommt, liest zuerst.

Bücherpaten gesucht Die Bürgerstiftung Backnang sucht Verstärkung für die ehrenamtliche Betreuung des Bücherregals. Ulrich Schielke freut sich über Fragen von Interessenten, Telefon 07191/062509, E-Mail uschielke@web.de.
Die beiden Gründungsväter des Bücherregals Michael Balzer (von links) und Ulrich Schielke schauen in den Roman „Aufbruch“ der deutschen Schriftstellerin Ulli Hahn.

© Alexander Becher

Die beiden Gründungsväter des Bücherregals Michael Balzer (von links) und Ulrich Schielke schauen in den Roman „Aufbruch“ der deutschen Schriftstellerin Ulli Hahn.

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Erstellt:
20. November 2021, 06:00 Uhr

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