Das Ende des 9-Euro-Tickets: Eine erste Bilanz

Die drei Monate dauernde 9-Euro-Ticket-Zeit hat viele Menschen dazu angeregt, das Auto stehen zu lassen und mit Bus und Bahn zu pendeln und zu reisen. Wir sprachen mit Sprechern des VVS Stuttgart und der Deutschen Bahn AG über eine vorläufige Bilanz.

Viele Bus- und Bahnnutzer werden dem 9-Euro-Ticket nachweinen. So manche Reise wäre ohne dieses nicht gemacht worden. Foto: Alexander Becher

© Alexander Becher

Viele Bus- und Bahnnutzer werden dem 9-Euro-Ticket nachweinen. So manche Reise wäre ohne dieses nicht gemacht worden. Foto: Alexander Becher

Von Ingrid Knack

Rems-Murr. Preisparadiesische Zeiten für Pendler und Reisende, die mit Bus und Bahn unterwegs sind, neigen sich dem Ende zu. Das 9-Euro-Ticket, das jeweils für die Monate Juni, Juli und August gekauft werden konnte, berechtigte dazu, deutschlandweit Busse und Bahnen im Nah- und Regionalverkehr zu nutzen, wann immer man das wollte. Ausgenommen waren der Fernverkehr der Deutschen Bahn AG, also beispielsweise ICE, IC, EC, sowie die Flix-Züge und -busse. Dass die Züge zum Teil brechend voll waren, ist ein zweischneidiges Schwert. Denn die positive, riesige Resonanz traf auf Kapazitätsengpässe. Wie sah es an Rems und Murr und überhaupt in der gesamten Region Stuttgart aus? Darüber sprachen wir mit Niklas Hetfleisch von der Stabsstelle Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Verkehrs- und Tarifverbunds Stuttgart GmbH (VVS) und einer Sprecherin der Deutschen Bahn AG in Stuttgart.

Etwa 1,8 Millionen verkaufte VVS-Tickets

Zur Zahl der in der Region Stuttgart verkauften 9-Euro-Tickets während der vergangenen drei Monate sagt Hetfleisch: „Es liegen noch nicht alle Abrechnungen der 40 Verkehrsunternehmen im VVS vor. Die Aktion ist auch noch nicht abgeschlossen. Daher können wir nur Hochrechnungen vornehmen. Danach wurden rund 1,8 Millionen 9-Euro-Tickets im VVS verkauft. Hinzu kommen jeden Monat über 350000 Abonnenten im VVS, die auf das 9-Euro-Ticket umgestellt wurden. Das macht alles in allem rund 3 Millionen 9-Euro-Tickets im VVS.“ Bei dieser Betrachtung noch nicht dabei sind die Tickets, die aus der Region Stuttgart über den DB-Navigator verkauft und nicht auf die einzelnen Verbünde runtergerechnet wurden. Dies sind nach den Worten des VVS-Sprechers nochmals ein paar Hunderttausend Tickets.

Sein Fazit fällt überwiegend positiv aus. „Es war ein Geschenk des Bundes an unsere Fahrgäste, das sehr gut angekommen ist. Viele Bürgerinnen und Bürger sind zum ersten Mal seit Längerem wieder mit Bus und Bahn gefahren.“ Nach einer Marktforschung des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) hätten zehn Prozent der Fahrten mit dem 9-Euro-Ticket Autofahrten ersetzt. „Das ist ein relativ hoher Wert. Viele Menschen mit geringerem Einkommen haben Fahrten unternommen, die sie sonst nicht gemacht hätten.“ Diese Zahl führt auch die Sprecherin der DB AG an.

Viele Baustellen und fehlende Kapazitäten

In diesem Zusammenhang erwähnt Hetfleisch: „Insoweit freuen wir uns, dass auch Fahrgäste des ÖPNV beim Energieentlastungspaket des Bundes berücksichtigt wurden und nicht nur Autofahrer mit dem Tankrabatt. Dieses Angebot kam sehr kurzfristig, dennoch hat sich die gesamte Branche bemüht, das Ticket bundesweit in allen Bahnen und Bussen sehr schnell umzusetzen.“ Die rasche Umsetzung sei nur möglich gewesen, weil die Einnahmeverluste aus dem Jahr 2022 ohnehin durch den ÖPNV-Rettungsschirm aufgefangen würden. Auf der Negativseite stehe allerdings, dass die Kapazitäten kurzfristig nicht ausgebaut werden konnten, bedauert der VVS-Sprecher. Bedauerlich sei auch gewesen, dass es im Sommer so viele Baustellen gegeben hätte und dadurch das Angebot zusätzlich eingeschränkt gewesen sei.

DGB-Landeschef Kai Burmeister hat laut einem SWR-Bericht unlängst deutlich gemacht, dass das Ticket Defizite im öffentlichen Nahverkehr aufgezeigt habe. Es mangele an Fahrzeugen und die Beschäftigten arbeiteten vielfach an den Grenzen der Belastbarkeit. Um die Infrastruktur für ein dauerhaftes Billigticket fit zu machen, schlug der DGB einen kreditfinanzierten öffentlichen Fonds auf Bundesebene vor.

Kurzfristig kann man nur den Busverkehr ausbauen, nicht aber den Schienenverkehr

Es sei vollkommen richtig, dass die Schieneninfrastruktur ausgebaut werden müsse und dafür erhebliche Mittel zur Verfügung gestellt werden müssten, sagt auch Hetfleisch. Ob dies durch einen Fonds oder direkte Mittel aus dem Bundeshaushalt geschehe, sei zweitrangig. Auch müssten mehr Fahrzeuge beschafft werden. Der Bau von Schieneninfrastruktur und Schienenfahrzeugen dauere allerdings sehr lange. „Wenn man kurzfristig den ÖPNV ausbauen will, wird man auf den Bus setzen müssen.“ Der Bus brauche aber auch freie Wege, sprich Busspuren, und eine Bevorrechtigung an den Signalanlagen, damit er nicht im Stau steht. Ein großer Engpass sei hingegen das Personal. „Überall fehlen Busfahrer, Triebfahrzeugführer, Elektriker und Mechaniker in den Werkstätten.“

Zum Thema einer weiteren Sonderangebotsauflage meint Hetfleisch: „Die Kosten laufen den Verkehrsunternehmen davon, weil derzeit die Energiepreise – Bahnstrom und Diesel – astronomisch steigen.“ Deshalb forderten die ÖPNV-Branche und die Bundesländer vom Bund, die Regionalisierungsmittel um 1,5 Milliarden Euro zu erhöhen. „Günstigere Preise bei eingeschränktem Angebot wären sicher nicht das richtige Signal. Ein Nachfolgeprodukt für das 9-Euro-Ticket kostet viel Geld. Für drei Monate sind immerhin Kosten in Höhe von 2,5 Milliarden Euro angefallen – eine Summe, die auch für den Bund nicht so leicht aufzubringen ist.“ Ein Nachfolgeprodukt solle aber langfristig gelten, daher müsse die Finanzierung – egal welches Modell komme – vollständig und dauerhaft gewährt werden. „Wir plädieren dafür, die Erfahrungen mit dem 9-Euro-Ticket in den nächsten Wochen bundesweit umfassend zu evaluieren. Eine zweite Auflage des 9-Euro-Tickets steht und fällt mit der Finanzierung. Auch ein 49-Euro-Ticket oder ein 365-Euro-Ticket würde jährlich Kosten in Milliardenhöhe erzeugen.“

Keine Preiserhöhung im Herbst

Wohin also geht konkret aus jetziger Sicht des VVS die Zukunft des ÖPNV, für die das 9-Euro-Ticket ja auch ein Experiment war? Wichtiger als der Preis seien das Leistungsangebot und die Qualität, bekräftigt Hetfleisch einmal mehr. Tarif und Vertrieb müssten indes noch einfacher werden. „Mit unserer Tarifzonenreform sind wir bereits einen großen Schritt in Richtung einer einfacheren und günstigeren Mobilität gegangen.“

Ab September gelten wieder die normalen Preise. Eine Erhöhung im Herbst werde es nicht geben, versichert Hetfleisch. Aber: „Ab 1. Januar 2023 werden die Tarife um 4,9 Prozent steigen, die Erhöhung liegt deutlich unter der aktuellen Inflationsrate und unter der Kostensteigerung des Verbundverkehrs unter anderem durch Kosten für Personal, Dieselkraftstoff, Bahnstrom und Fahrzeugbeschaffung.“ Die größte Kundengruppe im ÖPNV, die jungen Menschen, die rund 40 Prozent der VVS-Kunden ausmachten, seien von der Tariferhöhung nicht betroffen, da ab März 2023 ein landesweites Jugendticket für 365 Euro im Jahr eingeführt werde. Dafür laufen bereits die Vorbereitungen. „Das 9-Euro-Ticket ist ein klares Signal, dass wir in Deutschland mutig die Mobilitätswende angehen, um einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz zu leisten.“

Umfrage

Werden Sie nach Ende des 9-Euro-Tickets weiter Bahn fahren?

377 abgegebene Stimmen

Ziel sei es gewesen, mit dem Ticket insbesondere Neukundinnen und Neukunden anzusprechen und langfristig zu binden. Sie sollten durch die Aktion die Möglichkeiten und Vorteile des Nahverkehrs kennenlernen. Gleichzeitig sollten Bestandskunden mit Abo profitieren. Diese Fahrgäste langfristig zu halten, sei verkehrs- und klimapolitisch ebenso wichtig. „Je mehr Menschen wir für den klimafreundlichen ÖPNV wieder- und neu hinzugewinnen, desto schneller kommen wir beim Klimaschutz voran.“

Bundesweit rund 38 Millionen Tickets verkauft

Die Sprecherin der DB AG in Stuttgart bilanziert: „Bisher wurden bundesweit rund 38 Millionen 9-Euro-Tickets verkauft – über 19 Millionen davon allein über die Verkaufskanäle der DB.“ Jeder fünfte Kunde habe laut gemeinsamer repräsentativer Befragung von VDV und DB die Bahnen und Busse des ÖPNV zuvor nicht oder kaum genutzt. Besonders die Verbindungen in die touristischen Regionen seien sehr beliebt gewesen, insbesondere an den Feiertagswochenenden. Die DB habe zum 1. Juni mit rund 50 zusätzlichen Zügen rund 250 zusätzliche Fahrten und damit den Ausbau des täglichen Angebots um weitere 60000 Sitzplätze im Regionalverkehr ermöglicht. „Einmal mehr hat dieses Ticket unterstrichen, wie wichtig ein weiterer Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs ist.“

Zum Artikel

Erstellt:
29. August 2022, 06:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Lesen Sie jetzt!
Im Café „Base – on the river“ an den Murrtreppen in Backnang weist ein Schild die Gäste auf das Cannabisverbot hin. Foto: Alexander Becher
Top

Stadt & Kreis

Backnang will Kiffen auf dem Straßenfest verbieten

Die Stadtverwaltung in Backnang plant, das Rauchen von Cannabis auf dem Straßenfest zu untersagen. Auch andernorts wird das Kiffen trotz Teillegalisierung verboten bleiben, beispielsweise in Freibädern. Viele Gastrobetreiber wollen keine Joints in ihren Außenbereichen.

Stadt & Kreis

Saskia Esken stellt sich wütenden Fragen in Weissach im Tal

Die Bundesvorsitzende der SPD nimmt auf Einladung des Ortsvereins Weissacher Tal auf dem Roten Stuhl Platz. Die Besucherinnen und Besucher diskutieren mit ihr über die Themen Wohnungsbau, Ukrainekrieg, Verkehr und die Politik der Ampelkoalition.

Stadt & Kreis

Murrhardter Pflegeheim setzt auf ausländisches Personal

Der Fachkräftemangel belastet die Pflegeheime. Das Haus Hohenstein in Murrhardt setzt mit Blick auf die schwierige Lage auch auf Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die aus Nicht-EU-Ländern kommen und (nach-)qualifiziert werden. Zwei Pflegefachkräfte aus der Türkei berichten von ihrem Weg.