Der digitale Entzug – ein Fastenvorschlag

Exzessiver Konsum digitaler Medien kann geradezu süchtig machen und sich langfristig negativ auf die Stimmung auswirken. Deshalb versuchen immer mehr Menschen, vorübergehend darauf zu verzichten. Eine Schülerin aus Burgstall erzählt von ihrem Selbstversuch.

Annika Wieland kann sich vorstellen, ihre Bildschirmzeit künftig auf eine gewisse Anzahl an Stunden zu limitieren. Foto: Alexander Becher

© Alexander Becher

Annika Wieland kann sich vorstellen, ihre Bildschirmzeit künftig auf eine gewisse Anzahl an Stunden zu limitieren. Foto: Alexander Becher

Von Anja La Roche

Burgstetten. Heute beginnt die Fastenzeit. 40 Tage lang bis Ostern verzichten viele Menschen auf Genussmittel, von denen sie denken, sie genießen sie öfter als gut für sie ist. Zucker, Zigaretten, Alkohol, Kaffee – wer kennt sie nicht, die kleinen Sünden des Alltags. Wie aber wäre es, für einige Tage das Handy wegzulegen? Besonders die heutigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen verbringen enorm viel Zeit damit, in ihren kleinen Bildschirm zu blicken, den sie stets bei sich haben.

Ob der Nutzer auf Instagram Likes bekommt oder auf Youtube ein lustiges Video anschaut – ein kurzfristig positiver Effekt sorgt dafür, dass er immer öfter zum Smartphone greift. „Das Handy ist ein bisschen wie eine Droge“, erklärt die 15-jährige Schülerin Annika Wieland aus Burgstall, die sich näher mit dem Thema beschäftigt hat. Das Gehirn schütte bei der Handynutzung den Botenstoff Dopamin aus, der besonders für die Eigenschaft bekannt ist, glückliche Gefühle auszulösen. Auf lange Sicht gesehen frisst der hohe Medienkonsum aber viel Zeit und kann sich negativ auf das eigene Wohlbefinden auswirken.

Deshalb beschäftigen sich immer mehr Menschen mit dem Thema Digital Detox (zu deutsch: digitale Entgiftung). Dabei wird zum Beispiel eine gewisse Zeit lang auf alle digitalen Endgeräte wie Smartphone, Tablet, Computer und Fernseher verzichtet. Die Methode kann aber auch abgeschwächt werden. So verbieten sich etwa viele junge Menschen für eine Zeit lang, die sozialen Medien, also Facebook, Instagram und Co. zu nutzen. Eine andere Möglichkeit ist beispielsweise, nur das Smartphone zu entbehren, aber den Computer oder den Fernseher weiterhin zu verwenden. Durch den Verzicht soll ein bewussterer Umgang mit digitalen Medien erlernt werden.

Die Schüler behandeln das Thema im Unterricht

Ein Woche lang auf ihr Handy verzichtet hat auch Annika Wieland. „In meinem Selbstversuch habe ich gemerkt, wie sehr einen das Handy beeinflusst“, erzählt die Schülerin. Schon vor dem Experiment hatte sie sich gedacht, dass sie zu viel auf Social Media unterwegs ist. Dann hat ihre Klasse, sie besucht das Tausgymnasium in Backnang, das Thema Digital Age (zu deutsch: digitales Zeitalter) behandelt und einen Roman zum Thema Handykonsum gelesen (Buchtitel: The Disconnect). Weil Annika Wieland das Thema interessant fand, entschied sie sich dazu, ein Referat über den Einfluss von Social Media auf Teenager zu halten und probierte dafür gleich selbst den digitalen Entzug aus.

In den Ferien galt für die Schülerin dann eine Woche selbst auferlegtes Handyverbot. Für manch einen mag das nach einer leichten Aufgabe klingen. Für Leute, die normalerweise viele Stunden täglich vor dem Bildschirm verbringen, kann das eine riesige Herausforderung sein. Annika hat immerhin eine durchschnittliche Handybildschirmzeit von vier Stunden pro Tag. Am meisten angetan hat es ihr die Plattform TikTok, aber sie ist auch auf Youtube, Instagram, Twitch, Twitter, Pinterest und Reddit unterwegs, wo sie sich die Videos und Texte anderer Personen anschaut und manchmal auch kommentiert.

Die negativen Seiten des hohen Social-Media-Konsums sind Annika Wieland bewusst: „Man hat immer Angst, dass man irgendwas verpasst“, erzählt sie. Denn die Social-Media-Nutzer sehen ständig, mit was andere Leute so ihre Zeit verbringen. Außerdem sind sie stets mit Personen konfrontiert, die sich idealisiert darstellen. „Wenn man das dauerhaft sieht, fühlt man sich irgendwann schlecht“, sagt Annika Wieland. Die sozialen Medien würden das Selbstbild negativ beeinflussen.

Wieland hatte viel mehr Zeit für Dinge, die sie schon lange abarbeiten wollte

Auch in der Psychologie und Medienwissenschaft wird die negative Wirkung von exzessivem Medienkonsum untersucht. Im Zweifelsfall soll eine intensive Nutzung der digitalen Angebote zu eingeschränkter Leistungsfähigkeit, zu sozialen Konflikten und psychischen Problemen führen können, bis hin zu einem Mangel an Selbstvertrauen sowie schlechter emotionaler Verfassung. Ein Kontrollverlust über die geplanten Nutzungszeiten und der Drang, ständig noch mehr Zeit im Internet zu verbringen, können Indizien einer Internetsucht sein.

Ein bisschen süchtig nach Internet sind vermutlich viele der jüngeren Leute. Und auch für Annika Wieland entpuppte sich der digitale Entzug als eine Qual, die sich vor allem in Langeweile äußerte. Wohlgemerkt: sie führte ihren Digital Detox während der Schulferien durch und da ist naturgegeben wenig los – der Langeweile war also auch aus anderen Gründen Tür und Tor geöffnet. Sechs Tage von sieben hielt die Burgstallerin es dennoch ohne Handy aus.

„Am Montag fand ich alles okay. Ich habe mich gut gefühlt und dachte, ich ziehe das durch“, erzählt Wieland. Sie ist spazieren gegangen, hat gezeichnet und ist früher zu Bett – alles Dinge, von denen sie das Handy normalerweise ablenkt. Am Dienstag hat sie vieles abarbeiten können, was liegen geblieben ist. Zum Beispiel hat sie ihr Zimmer aufgeräumt. „Abends habe ich dann die Wand angeschaut und gedacht: Mir ist so langweilig“, erinnert sich Schülerin. Um dem entgegenzuwirken, entschied sich die 15-Jährige dafür, eine Serie auf Netflix anzuschauen. Das verhinderte aber nicht, dass ihre Laune die darauffolgenden Tage immer schlechter wurde. „Es ist eigentlich Teil meiner Routine, morgens an mein Handy zu gehen“, so Annika Wieland. Der ständige Griff zum Smartphone fehlte ihr. Am Samstagabend entschied sie sich, den Selbstversuch einen Tag früher als geplant zu beenden. Ob sie es noch einmal machen würde? Eher nicht, antwortet sie, und schon gar nicht 40 Tage lang. Aber die Hoffnung in die Methode der digitalen Entgiftung hat sie noch nicht verloren. „Ich glaube, man muss es länger durchhalten, damit es einen Effekt hat“, so die Schülerin.

Wer seinen Konsum senken will, kann sich automatisch erinnern lassen

Was sie sich aber durchaus vorstellen kann ist, ihre Bildschirmzeit zu limitieren. Bei dieser Methode geht es nicht um den vollständigen Verzicht, sondern darum, eine zeitliche Obergrenze festzulegen. Die könnte lauten: Mehr als eine Stunde am Tag darf ich nicht auf Instagram sein. Um das zu kontrollieren, gibt es spezielle Anwendungen fürs Handy, die die Nutzungsdauer aufzeichnen. Wer seinen Konsum senken will, kann sich eine Benachrichtigung senden lassen, wenn das zuvor festgelegte Limit überschritten wird.

Es gibt also viele Möglichkeiten, einen digitalen Entzug in Angriff zu nehmen. Und wer die Fastenzeit durchhält, der gewinnt eines mit Sicherheit: mehr Zeit für die Liebsten in der analogen Welt.

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Erstellt:
22. Februar 2023, 06:00 Uhr

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