Erdogan fürchtet gelbe Westen

Türkischer Präsident befürchtet, Regierungskritiker könnten sich von Protesten in Frankreich inspirieren lassen – Innenministerium prüft Verkäufe von Warnwesten

Istanbul Tausende Menschen laufen durch die Straßen, halten Plakate hoch und machen ihrem Ärger lautstark Luft. Einige der Demonstranten tragen gelbe Westen. Der Protest findet aber nicht in Paris statt – und auch in keiner anderen französischen Stadt. Die Demonstranten ziehen durch Diyarbakir in der Türkei, etwa 1000 Kilometer von der Hauptstadt Ankara entfernt.

Die türkische Regierung ist alarmiert. Sie befürchtet angesichts wachsender wirtschaftlicher Probleme den Beginn von Massenprotesten der Gelbwesten wie in Frankreich. Beamte des Innenministeriums erkundigten sich deshalb in jüngster Zeit sogar in Geschäften für Berufsbekleidung, ob mehr Sicherheitswesten gekauft werden als sonst, berichten türkische Medien.

Nachdem das Wirtschaftswachstum nach 7,3 Prozent im vergangenen Jahr im laufenden Jahr zunächst auf 5,2 Prozent und zuletzt auf 1,6 Prozent zurückgegangen ist, befindet sich die Türkei in einer Rezession. Inlandsnachfrage und Investitionen gehen zurück, die Arbeitslosigkeit steigt, die Inflation liegt bei mehr als 20 Prozent. Firmenpleiten sind inzwischen an der Tagesordnung: Am Montag erst wurde bekannt, dass eine Schnellimbiss-Kette mit 75 Filialen im ganzen Land Konkurs angemeldet hat.

Die Demonstration in Diyarbakir, der größten Stadt des Kurdengebietes, am Wochenende richtete sich gegen die drastischen Preissteigerungen der vergangenen Monate. Im Internet kursieren Videos von Männern in gelben Westen, die in einem türkischen Teehaus die Broschüren der Oppositionspartei CHP verteilen.

Innenminister Süleyman Soylu soll Berichte über potenzielle Proteste türkischer Gelbwesten als aufgebauschte Online-Gerüchte heruntergespielt haben, meldet die Oppositionszeitung „BirGün“. Präsident Recep Tayyip Erdogan selbst zeigt Zeichen von Nervosität. Er will sogar einen Fernsehmoderator einsperren lassen, weil dieser auf die verfassungsmäßig verbriefte Demons­trationsfreiheit gepocht hatte.

Tatsächlich hat die Regierungspartei von Erdogan aber kaum etwas zu befürchten. Die regierungskritischen Gruppen im Land haben nämlich keine gemeinsame Basis oder Organisation, die größere Protestkundgebungen auf die Beine stellen könnte. Die Gewerkschaften sind zu schwach, die CHP agiert als größte Oppositionskraft im Parlament ungeschickt und ist mit innerparteilichen Streitereien beschäftigt.

Dennoch reagiert die Regierung mit Polizeieinsätzen auf jede Demo, die als regierungskritisch eingestuft wird. So verhindern Beamte wöchentlich Mahnwachen der Samstagsmütter in Istanbul, die Aufklärung über das Schicksal ihrer in den 90er Jahren verschleppten Söhne fordern.

Auch Ermittlungen gegen Teilnehmer der Gezi-Proteste des Jahres 2013, die kürzlich von der Justiz eröffnet wurden, dienen nach Einschätzung von Erdogan-Gegnern der Einschüchterung von Regierungskritikern. Der Kolumnist Mehmet Yilmaz von der Internetplattform „T24“ schrieb, Erdogan habe „ein Problem mit der Demokratie“. Yilmaz kommentierte damit Drohungen von Erdogan gegen den bekannten Fernsehmoderator Fatih Portakal – einen der wenigen TV-Journalisten, die in einem etablierten Sender noch die Regierung offen kritisieren.

Portakal hatte im Sender Fox die Frage gestellt, ob in der Türkei friedliche Demonstrationen etwa gegen die Erhöhungen der Gaspreise noch möglich seien. „Sind wir hier in Paris?“, entgegnete Erdogan in einer Rede in Anspielung auf die Gelbwesten in Frankreich. „Die Justiz wird ihm die angemessene Antwort geben“, sagte der Präsident über Portakal. In einer weiteren Ansprache am Montag wurde Erdogan noch deutlicher: Wenn Portakal so weitermache, werde man ihm „den Hintern versohlen“.

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Erstellt:
18. Dezember 2018, 03:14 Uhr

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