TV: „Jenseits der blauen Grenze“
Tod oder Freiheit
„Jenseits der blauen Grenze“ ist ein gerade von den jungen Mitwirkenden sehr intensiv gespieltes Jugenddrama über eine lebensgefährliche Flucht aus der DDR.

© SWR/Wood Water Films
Hanna (Lena Urzendowsky) und Andreas (Willi Geitmann)
Von Tilmann P. Gangloff
Wer im behüteten Westen aufgewachsen ist, kann das kaum nachvollziehen: Irgendwann wird der Leidensdruck so groß, dass Menschen ihre Familien zurücklassen und fliehen. Vor diesem Hintergrund ist „Jenseits der blauen Grenze“ von bedrückender Aktualität; selbst wenn es in der Geschichte um eine Flucht aus der DDR geht. Hauptfigur der Handlung ist eine von Lena Urzendowsky mit gewohnter Intensität verkörperte junge Schwimmerin: Hanna darf sich berechtigte Hoffnung machen, eines Tages in den ostdeutschen Olympiakader berufen zu werden. Mit ihrem Sieg über 50 Meter Freistil bei der Spartakiade in Leipzig kommt sie ihrem Traum einen großen Schritt näher; die Versetzung in ein Sportinternat ist bloß eine Frage der Zeit.
Thema der 2015 für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominierten Romanvorlage von Dorit Linke wie auch des Films ist jedoch nicht die sportliche Erfolgsgeschichte, zumal Hannas Trainingsleistungen plötzlich nachlassen. Über weite Strecken erzählt das Jugenddrama von einer Freundschaft, wie sie in dieser Form nur in jungen Jahren möglich ist: Hanna und Mitschüler Andreas (Willi Geitmann) verbringen jede freie Minute miteinander. Seine Familie lebt in der Wohnung oben drüber, das Mädchen bekommt daher mit, wie ihr Freund regelmäßig vom Trinkervater geschlagen wird.
Allein wird er nicht überleben
In der Schule hat’s Andreas ebenfalls schwer. Aus staatlicher Sicht ist der rebellische Junge ein typischer Systemsprenger; kein Wunder, dass er irgendwann als vermeintlich schwer erziehbar in einem Jugendwerkhof landet. Was ihm dort widerfahren ist, spielt er ebenso runter wie die Schläge des Vaters. Erst viel später entdeckt Hanna eine Narbe an seinem Handgelenk. Zu diesem Zeitpunkt ist längst klar, dass er hier raus muss. Andreas spricht die Parole „Tod oder Freiheit“ zwar nicht aus, aber das ist auch nicht nötig: Er will über die Ostsee in den Westen fliehen. Bis Fehmarn sind es rund fünfzig Kilometer. Die Strecke ist eine enorme Herausforderung, selbst für erfahrene Schwimmer, und Andreas ist alles andere als das. Hanna soll ihn trainieren, aber allein wird er die Flucht nicht überleben.
Das als Kinokoproduktion von SWR und Arte entstandene Drama ist das Langfilmdebüt von Regisseurin Sarah Neumann, sie hat auch das Drehbuch geschrieben und beweist gerade in der Führung der jungen Mitwirkenden großes Talent. Bei Lena Urzendowsky ist das nicht weiter überraschend, die Berlinerin (Jahrgang 2000) ist vielfach ausgezeichnet und wird dank ihrer Jugendlichkeit nach wie vor gern als Teenager besetzt. Willi Geitmann, beim Max-Ophüls-Festival 2024 als bester Nachwuchsschauspieler gewürdigt, ist dagegen eine echte Entdeckung. Sehr präsent ist auch der Dritte im Bunde: Jannis Veihelmann spielt einen neuen Mitschüler aus Dresden, den Andreas wegen des Dialekts zunächst hänselt, aber dann werden die drei unzertrennlich; bis Jens’ Eltern einen Ausreiseantrag stellen und über Nacht das Land verlassen.
Eine verblüffende Entdeckung
Die Spannung des optisch zwar sparsamen, aber dank des um einige erfahrene Mitwirkende (Uwe Preuss, Winnie Böwe) ergänzten Ensembles ausgezeichnet gespielten Films resultiert vor allem aus der dramaturgischen Konzeption: Die Handlung trägt sich auf zwei Zeitebenen zu. Die Gegenwart schildert die Flucht über die raue Ostsee. Diese Szenen, die gegen Ende an Häufigkeit und Dauer zunehmen, sind dem Titel zum Trotz fast schwarz-weiß; selbst der Himmel ist grau. Richtig bunt sind aber auch die Rückblenden nicht. Auf eine Zeitangabe hat Neumann verzichtet, die Jungs erzählen irgendwann von einem Westberliner David-Bowie-Konzert, bei dem die Menschen im Osten „Die Mauer muss weg!“ skandiert haben; das war 1987. Jens trägt jetzt eine Jeansjacke mit dem knallroten Logo der Rolling Stones. Während das Trio in den Rückblenden die Zeit totschlägt, spitzt sich die Rahmenhandlung immer mehr zu.
Angesichts einer zunehmenden Verklärung der DDR ist ein Film wie „Jenseits der blauen Grenze“ gerade jetzt umso wichtiger. Neumann erzählt die Geschichte ausnahmslos aus der Sicht des Mädchens. Deshalb werden Phänomene, die die circa 15 Jahre alte Hanna nicht versteht, auch nicht erläutert. Ihr Vater (Bernhard Conrad) zum Beispiel verbringt sein Dasein größtenteils im Bett. Später macht sie in seinen Sachen allerdings eine verblüffende Entdeckung. Für eine ungleich größere Überraschung sorgt jedoch ihr zwar wohlmeinender, aber auch streng linientreuer Trainer (Jonas Friedrich Leonhardi). Das Drama schließt mit dem lakonischen Hinweis, wie viele Personen beim Fluchtversuch über die Ostsee ums Leben gekommen sind.
Jenseits der blauen Grenze. Freitag, 27. Juni, 20.15 Uhr, Arte