Unterweissach in der NS-Zeit: Lokale Geschichte für den Unterricht

Die NS-Zeit ist fester Bestandteil des Geschichtsunterrichts. Doch wie es damals in der eigenen Kommune aussah, wird so gut wie nie vermittelt. Jürgen Hestler und Carolin Hestler möchten das mit ihrer Projektmappe „Leben unterm Hakenkreuz – Unterweissach im Gleichschritt“ ändern.

Jürgen und Carolin Hestler freuen sich, wenn viele Schulen Interesse an dem Unterrichtsmaterial zeigen. Der sogenannte Volksempfänger zwischen den beiden, ein Radioapparat, wurde während der NS-Zeit für die Verbreitung von Propaganda genutzt. Foto: Alexander Becher

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Jürgen und Carolin Hestler freuen sich, wenn viele Schulen Interesse an dem Unterrichtsmaterial zeigen. Der sogenannte Volksempfänger zwischen den beiden, ein Radioapparat, wurde während der NS-Zeit für die Verbreitung von Propaganda genutzt. Foto: Alexander Becher

Von Melanie Maier

Weissach im Tal. Von einem Bekannten ist Carolin Hestler einmal gefragt worden, ob sie bei ihrer jahrelangen Recherche zur NS-Zeit in Unterweissach denn auf etwas Entscheidendes gestoßen sei. „Da muss man natürlich erst mal überlegen, was genau man als entscheidend bezeichnet“, sagt die Dozentin der Abteilung Geschichte der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg.

Zusammen mit ihren Studentinnen und Studenten hat sie in den zurückliegenden Jahren intensiv erforscht, was genau sich vor und während des Zweiten Weltkriegs in der Tälesgemeinde ereignete und wie die Diktatur und der Nationalsozialismus dort die Schicksale Einzelner beeinflussten. Aber ob sie dabei etwas Entscheidendes entdeckt hat? „Wir haben jetzt keine großen Täter feststellen können – es gab keine großen Kriegsverbrechen in Unterweissach, keine Deportationen“, sagt sie. „Einige sind zwar aus politischen oder religiösen Gründen in sogenannte Schutzhaft gekommen, aber das war nicht weiter ungewöhnlich.“ Exakt das mache das Projekt, das in Kooperation mit dem Heimatverein Weissacher Tal entstanden ist (dessen Vorsitzender Jürgen Hestler Carolin Hestlers Schwiegervater ist), aber besonders, findet die Historikerin: „Das, was in Unterweissach passiert ist, hat sich auf ähnliche Art und Weise bestimmt tausendfach in Deutschland ereignet.“ Das Geschehene sei deshalb exemplarisch auf andere Städte und Gemeinden übertragbar.

Die Materialsammlung ist so aufbereitet, wie es Lehrkräfte gewohnt sind

Das gesammelte Wissen haben Hestler und ihre Studentinnen und Studenten in der Projektmappe „Leben unterm Hakenkreuz“ aufbereitet – inklusive zahlreicher Originalquellen aus den Archiven: Akten, Briefen, Spruchkammerbescheiden. Viele davon sind erstmals veröffentlicht. Die mehr als 100-seitige Materialsammlung richtet sich zwar zunächst an Geschichtslehrerinnen und -lehrer an weiterführenden Schulen (insbesondere für die Klassenstufen acht bis zehn), kann selbstverständlich aber auch von allen anderen Geschichtsinteressierten genutzt werden.

Die vier Kapitel – zwei stammen von den Studentinnen Roxanne Adler und Luisa Buchfink, zwei von Carolin Hestler – umfassen jeweils eine inhaltliche Einführung, einen didaktischen Kommentar, Arbeitsmaterialien und Lösungsvorschlage. „Sie sind also so aufbereitet, wie Lehrer es gewohnt sind“, erklärt Hestler. Die einzelnen Seiten können außerdem alle herausgenommen werden, sodass einfach Kopien erstellt werden können – daher die Entscheidung für die Mappenform.

Die Materialsammlung ist der dritte Teil des Projekts „Unterweissach im Gleichschritt“ (siehe Infotext). Finanziert wird dieses von der Aktion „Partnerschaft für Demokratie“ des Kreisjugendringes im Rahmen des Bundesförderprogramms „Demokratie leben“ sowie von der Eberhard-Gläser-Stiftung. Die Veröffentlichung kommt zu einem symbolträchtigen Zeitpunkt: pünktlich zur 90. Wiederkehr von Hitlers Machtergreifung am 30. Januar 1933.

Die Schüler sollen sich eine eigene Meinung bilden können

Inhaltlich stehen sehr konkrete Fragestellungen im Fokus: Kann ein Namenswechsel antisemitisch sein? Ist es schon Widerstand, wenn ein Pfarrer den Hitlergruß verweigert? Wichtig war den drei Verfasserinnen, kein fertiges Geschichtsbild zu präsentieren, sondern den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit zu geben, sich eine eigene Meinung zu bilden. Zum Beispiel über die vergleichsweise milde Strafe, mit der der SS-Offizier Rudolf Klaphake nach Kriegsende davongekommen ist. Er soll in Unterweissach die Erhängung einer fünffachen Mutter gefordert haben, die sich darüber beschwert hatte, dass SS-Männer in der Gaststätte Hirsch nachts laut feierten. Ortsansässige setzten sich für sie ein und retteten damit ihr Leben. „Mit solchen Geschichten kann man die Jungs und Mädels schon packen“, meint Jürgen Hestler. Der ehemalige Geschichtslehrer hat sich schon immer dafür ausgesprochen, historische Begebenheiten über emotionale Inhalte greifbar zu machen.

Ganz einfach sei der Stoff aber nicht, räumt seine Schwiegertochter ein. „Aber es gibt eben auch keine einfachen Antworten“, betont sie. „Anders als uns das manche rechten Strömungen auch heute wieder glauben machen wollen.“

Quellen richtig zu beurteilen ist eine wichtige Kompetenz, die bei dem Projekt vermittelt werden soll. „Woher kommt eine Aussage? Welche Intention steht dahinter?“, wirft Hestler mögliche Fragen in dem Kontext auf. Fragen wie diese seien auch für die Gegenwart wichtig – Stichwort Fake News. Am historischen Beispiel könne man lernen, Falschnachrichten zu erkennen, so die Dozentin: „Das ist der Grundgedanke, der geschichtsdidaktisch dahinterliegt.“

Das Material ist für alle weiterführenden Schulen geeignet

Der zweite Schwerpunkt des Projekts ist das Lernen über die eigene Region. Auch das werde angesichts der Globalisierung immer wichtiger, ist Hestler sich sicher. Mithilfe ihres Unterrichtsmaterials können Schülerinnen und Schüler aus dem Weissacher Tal Gelerntes an den Orten festmachen, die sie selbst täglich sehen und gut kennen.

Das Material ist für alle weiterführenden Schulen geeignet – von der Gemeinschaftsschule zum Gymnasium. Die Aufgaben sind teilweise verschieden, die Grundlagen aber dieselben. Die Projektmappe wird Hestler bald am Bildungszentrum Weissacher Tal vorstellen und das didaktische Konzept dahinter vorstellen. Mit einigen Backnanger Schulen ist sie ebenfalls in Kontakt. Freuen würden sie und Jürgen Hestler sich, wenn auch andere Schulen Interesse hätten. Die Materialsammlung stellt der Heimatverein Weissacher Tal kostenlos zur Verfügung.

Projekt und Unterrichtsmaterial

Projekt Das vierteilige Projekt „Unterweissach im Gleichschritt“ arbeitet die nationalsozialistische Vergangenheit des Weissacher Teilorts auf. Den Anfang machte der Actionbound „Diktatour“ im Mai 2021, der nach wie vor genutzt werden kann (siehe unten). Im November 2021 folgte ein Dorfspaziergang. Er soll aufgrund hoher Nachfrage erneut angeboten werden. Sobald ein Termin feststeht, wird er auf der Webseite des
Heimatvereins und in unserer Zeitung bekannt gegeben. Der dritte Teil des Projekts ist die nun veröffentliche Materialsammlung für den Geschichtsunterricht. Im Lauf dieses Jahres soll außerdem eine fachwissenschaftliche Aufarbeitung der „Geschichten unterm Hakenkreuz“ veröffentlicht werden.

Unterrichtsmaterial Die Projektmappe kann kostenlos vom Heimatverein Weissacher Tal bezogen werden. Diesen erreicht man telefonisch unter 07191/53982 sowie per E-Mail an info@heimatverein-weissacher-tal.de. Mehr Informationen findet man unter www.heimatverein-weissacher-tal.de.

Actionbound Die digitale Schnitzeljagd „Unterweissach im Gleichschritt – Diktatour“ ist auf der Plattform Actionbound
verfügbar unter https://actionbound.com/bound/ UnterweissachGleichschrittTour. Nach dem Herunterladen ist die App offline nutzbar.

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Erstellt:
28. Januar 2023, 06:00 Uhr

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