Vernachlässigt werden bei Inge Gräßle nur die Kakteen

Bundestagswahl 2021: Inge Gräßle ist täglich im Wahlkreis Backnang/Schwäbisch Gmünd unterwegs, um das Direktmandat für die CDU zu verteidigen. Die ehemalige EU-Abgeordnete kämpft energisch um die Gunst der Wähler und sagt über sich: „Ich musste mir alles erarbeiten.“

Die Eckkneipe Kunberger hat’s Inge Gräßle angetan. Dort hat sie nach dem Lockdown-Ende ihr erstes Essen auswärts genossen.Foto: A. Becher

© Alexander Becher

Die Eckkneipe Kunberger hat’s Inge Gräßle angetan. Dort hat sie nach dem Lockdown-Ende ihr erstes Essen auswärts genossen.Foto: A. Becher

Von Matthias Nothstein

Backnang. Der Kandidat der CDU hat im Wahlkreis Backnang/Schwäbisch Gmünd seit dessen Schaffung im Jahr 1965 immer das Direktmandat errungen. Ist also für die aktuelle Kandidatin Inge Gräßle der Wahlkreis ein gmähds Wiesle? Die 60-Jährige widerspricht energisch: „Moment mal. Der Wähler wählt. Und ich stelle mich der Wahl und akzeptiere das Votum in Demut.“ Damit aber das Ergebnis zu ihrer Zufriedenheit ausfällt, investiert die einstige Europaabgeordnete einiges. Täglich ist sie im Einsatz und hat inzwischen weit über 100 Termine im Wahlkreis wahrgenommen, damit die Wähler sie kennenlernen können.

Die Energie dazu hat sich die Frau aus dem Härtsfeld von Kindesbeinen an erarbeitet. Die Eltern waren beide Arbeiter, der Vater war in der Textilfabrik Voith beschäftigt, die Mutter Waldarbeiterin im Fürstenhaus Thurn und Taxis. „Ich musste mir alles erarbeiten und konnte nie sagen, das hätte ich gerne.“ Schon als Kind half sie bei der Mutter im Wald mit, später kellnerte sie bei großen Festen und kaufte sich von ihrem ersten Ersparten eine Ente. Sofort nach dem Abitur volontierte sie bei der Augsburger Allgemeinen, arbeitete danach zwei Jahre lang als Redakteurin in Illertissen und studierte erst im Anschluss Romanische Sprachen, Geschichte und Politikwissenschaft.

So wie dem Mädchen und der jungen Frau nichts so einfach in den Schoß gefallen ist, so hat sie auch heute verinnerlicht, um jeden Erfolg neu kämpfen zu müssen. Aktuell also um das Mandat im Wahlkreis 269. Die Kandidatur war nicht ihre eigene Idee, „der Wahlkreis ist auf mich zugekommen und ich habe nicht sofort Ja gesagt“.

Der Wohnsitz wurde nach Gmünd verlegt

Gmünder Freunde hätten sie schlussendlich mit dem Argument überzeugt, dass in dieser extrem schwierigen Situation jemand gebraucht werde, der politische Erfahrung und Kontakte habe. Denn die Region Stuttgart befinde sich durch den Strukturwandel in der Automobilindustrie und das drohende Ende der Verbrenner-Technologie in der vielleicht größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg, „und viele haben es noch gar nicht gemerkt“. Gräßle sagt im Blick auf den Wahlkreis und ihre Person: „Wir brauchen jemand, der den Strukturwandel mitorganisiert, wir prägen jetzt die nächsten 100 Jahre.“

Als Wahlkampfbasis hat Gräßle ihren Wohnsitz nach Gmünd verlegt und dort eine kleine Studiowohnung erworben. Denn ihr war klar, dass sie näher im Wahlkreis wohnen muss, um alle Aufgaben zu erledigen. „Als Europaabgeordnete bin ich jährlich 60000 Kilometer gefahren, das ist eineinhalb mal um den Globus.“ Mit der Auflösung der Brüsseler Wohnung und dem Umzug letztes Jahr aus dem Elternhaus in Großkuchen, wo sie derzeit immer noch ihre 91-jährige Mutter mitpflegt, möchte sie auch im Wahlkampf Kilometer sparen. „Ich weiß nämlich, was es bedeutet, abends nach einer Versammlung noch 80 Kilometer über Land zu fahren. Das braucht keiner.“ Dass sie nun in Schwäbisch Gmünd heimisch ist, soll nicht als Absage an Backnang verstanden werden. Mehrere Gründe sprachen jedoch für diese Entscheidung, vor allem, dass es dort ein konkretes Angebot gab, „es ist ja nicht selbstverständlich, überall etwas Passendes zu finden“.

Nun jedoch singt sie das Hohe Lied auf Backnang, schwärmt vom großartigen historischen Ensemble und dem kulturellen Angebot. „Die Stadt hat viel investiert, die Innenstadt strahlt etwas Heimeliges aus.“ Für das Treffen mit der Zeitung sollte die Kandidatin einen Lieblingsort nennen, an dem sie ihre Freizeit verbringt oder sich gerne aufhält. Gräßle schlug die Eckkneipe Kunberger vor. Nun müsste man meinen „Obacht!“, wenn jemand eine Kneipe zu seinem Lieblingsplatz kürt. Doch Gräßle erklärt schmunzelnd, „das ist nicht mein Headquarter“. Vielmehr sei sie nach fünf Monaten Lockdown gleich am ersten Tag, als es wieder möglich war, Essen gegangen, und das war eben im Kunberger. Sie genoss diese Stunde so sehr, dass sie sich mit Freude daran zurückerinnert. Sie schoß sogar ein Foto von ihrem Essen – Schnitzel mit Kartoffelsalat. „Ich freue mich, dass es wieder möglich ist Essen zu gehen.“ Nur deshalb rangiert Kunberger in der Liga der Lieblingsorte nun weit oben.

Zeit für Hobbys hat die Politikerin kaum

Zudem hätte Gräßle Schwierigkeiten, andere Lieblingsorte anzugeben. Hobbys hat sie aufgrund ihrer früheren beruflichen Eingespanntheit keine. Wobei sie dann doch einschränkt, „vielleicht Sport“. So geht sie jede Woche einmal schwimmen, „das lasse ich mir nicht nehmen“, seit dem Ende ihrer Abgeordnetentätigkeit sogar zweimal pro Woche. Zudem geht die Politikerin jeden Tag 10000 Schritte. „Im EU-Parlament hatte ich oft 16-Stunden-Tage. Und ich habe es gar nicht gemerkt. Ich habe mir vorgenommen, dass es so weit nicht mehr kommen darf.“ Seit einiger Zeit stehen zudem jeden Morgen 24 Minuten Gymnastik auf dem Plan. „Ich beschimpfe die von mir benutzte App jeden Tag und mache die Übungen mit Abscheu und Empörung, aber ich ziehe sie durch, ich bin ein sehr disziplinierter Mensch.“ Ihre Fitness ist der dynamischen Frau wichtig. So hat sie seit der Brüsseler Zeit zehn Kilogramm abgenommen, „ohne Diät, einfach nur durch besseres Essen und mehr Bewegung und Achtsamkeit.“ Heute kocht sie „oft und leidenschaftlich gerne selbst“. Und wie schätzt sie sich ein? „Mein Ehrgeiz ist deutlich größer als mein Können“, urteilt sie mit einer Prise Selbstkritik und Humor.

Immer und immer wieder kommt das Gespräch auf den Wirtschaftsstandort Baden-Württemberg. So etwa im Zusammenhang mit ihrem aktuellen Auto, ein schwarzer Mercedes. Bei der Frage nach dem Typ wendet sie sich hilfesuchend an den Wahlkampfhelfer, der sie begleitet. Der weiß die Antwort: „E-Klasse.“ Und Gräßle ergänzt. „Ein Diesel, Euro 6 natürlich.“ Dass sich die einstige Ente zur E-Klasse gemausert hat begründet Gräßle ganz leidenschaftslos: „Wenn man so viel fährt wie ich, dann ist es wichtig, einigermaßen bequem und sicher unterwegs zu sein.“ Und wieder schwärmt sie nicht nur für ihren fahrbaren Untersatz, „das sind gute Autos“, sondern noch mehr für die Region. Umso mehr ist ihr wichtig zu betonen: „Vielen ist nicht bewusst, was sich über ihnen zusammenbraut, aber es regnet schon.“ Und sie erinnert an die Anfänge ihres Wirkens als Politikerin 1996. „Damals lag die Arbeitslosenquote in Baden-Württemberg bei 12 Prozent. Ich weiß, wie das ist, wenn die Menschen Sorge um ihren Arbeitsplatz haben.“

Auf ihre schwäbische Heimat ist sie stolz, weshalb auch auf ihren Wahlplakaten damit geworben wird. „Bei den Schwaben ist das so wie mit einem Jojo. Das wirft man weg, aber es kommt immer wieder zurück.“ So spricht sie zwar vier Fremdsprachen, aber ihr Herz schlägt für die Heimat. Urlaub hat sie seit Jahren keinen mehr gemacht. „Privat verreise ich freiwillig nicht mehr. Wenn man so viel unterwegs sein musste wie ich, dann käst das einen auch einmal an. Ich hoffe, dass mir das Reisen irgendwann einmal wieder Spaß macht. Ich freue mich darauf, aber noch ist es nicht der Fall.“

Seit der Pandemie hat sie Deutschland nicht mehr verlassen. So blieb Zeit, im Sommer den Keller im Haus der Mutter zu verputzen. Nüchtern knapp beschreibt sie, wie sie auf die Idee gekommen ist: „Der Nachbar ist Maurer. Der hat mir gezeigt, wie es geht.“ Mit einer weiteren Prise Humor beschreibt Gräßle sich selbst weiter: „Ich bin ledig und habe kein Haustier. Das einzige Lebewesen, das bei mir gut gedeiht, sind Kakteen. Die blühen wie die Weltmeister und gedeihen trotz ständiger Vernachlässigung.“ Jetzt will sie daran mitschaffen, dass auch der Wahlkreis weiter blüht.

Inge Gräßle (CDU),
zu ihrer Motivation, im Wahlkreis zu kandidieren. „Wir brauchen jemand, der den Strukturwandel mitorganisiert, wir prägen jetzt die nächsten 100 Jahre.“
Inge Gräßle

Herkunft Ingeborg Gräßle wurde am 2. März 1961 in Großkuchen bei Heidenheim geboren.

Ausbildung Nach dem Abitur absolvierte sie ein Volontariat bei der Augsburger Allgemeinen Zeitung und arbeitete zwei Jahre als Redakteurin. Ab 1984 studierte sie Romanistik und Politikwissenschaft in Stuttgart und Paris und promovierte an der Freien Universität Berlin.

Karriere Ab 1995 war Gräßle Sprecherin der Stadt Rüsselsheim, ein Jahr später wurde sie im Wahlkreis Heidenheim für die CDU in den Landtag gewählt. 2001 verteidigte sie das Direktmandat. 2004 zog Inge Gräßle in das Europaparlament ein, dem sie insgesamt 15 Jahre angehörte. Unter anderem war sie in Brüssel Parlamentarische Geschäftsführerin der CDU/CSU-Gruppe und Vorsitzende des Haushaltskontrollausschusses. Bei der Europawahl 2015 verpasste sie auf Listenplatz 5 jedoch den erneuten Einzug.

Bundestagskandidatin Im

Oktober 2020 wurde Gräßle als Bundestagskandidatin für den Wahlkreis Backnang/Schwäbisch Gmünd nominiert. Sie setzte sich dabei gegen die Mitbewerber Jan Ebert (Kirchberg an der Murr) und Mustafa Al-Ammar (Schechingen) durch.

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Erstellt:
26. August 2021, 06:00 Uhr

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