Von unerwarteter Freude und hartem Aufprall

Bundestagswahl 2021: Während die CDU im Kunberger ihr Direktmandat feiert, aber ihre Verluste verdauen muss, jubelt die SPD gleich doppelt in der „Uhr“. Im Backnanger Wohnzimmer sind die Grünen etwas enttäuscht, freuen sich aber über den Einzug ihrer Kandidatin in den Bundestag.

Im Vergleich zu 2017 legen SPD, Grüne und FDP im Rems-Murr-Kreis zu, CDU, AfD und Linke büßen Stimmen ein. Grafik: S. Horn

Im Vergleich zu 2017 legen SPD, Grüne und FDP im Rems-Murr-Kreis zu, CDU, AfD und Linke büßen Stimmen ein. Grafik: S. Horn

Von unserer Redaktion

Frust und Freude bei Inge Gräßle

Inge Gräßle durchleidet am Wahlabend ein Wechselbad der Gefühle. Erst lange Gesichter bei ihr und ihren Parteifreunden, dann doch Freude und Applaus. Die 60-Jährige gibt sich am frühen Abend optimistisch: „Die Stimmung unter den Bürgern ist besser als die Umfrageergebnisse.“ Sie gehe davon aus, dass die CDU wieder das Direktmandat holt. Die „große Unbekannte“ sei der hohe Anteil der Briefwähler. Auf die komme es besonders an. Punkt 18 Uhr verfolgt die CDU-Bundestagskandidatin des Wahlkreises Backnang/Schwäbisch Gmünd zusammen mit CDU-Kreisvorsitzendem Siegfried Lorek und vielen Wahlhelfern aus Backnang die ersten Prognosen in der Weinstube Kunberger. Was das ZDF verkündet, will den Christdemokraten gar nicht gefallen. Denn die SPD-Genossen liegen demnach mit 26 Prozent vorn, mit 24 dahinter die CDU/CSU. „Dass es schwierig wird nach Angela Merkel, war eh klar“, kommentiert Gräßle. „Bei den Umfragewerten lagen wir schon bei 19 Prozent. Die große Katastrophe ist das jetzt nicht.“ CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak sagt im Fernsehen: „Das wird ein sehr, sehr langer Wahlabend.“ – „Das glaub’ ich auch“, stimmt die 60-Jährige zu. 18.14 Uhr: Lorek wirft schmunzelnd ein: „Ich glaube, wir schalten auf ARD, da steht’s 25:25.“

„Natürlich sind wir mit 25, 26 Prozent nicht zufrieden. Dass das nicht das ist, was wir wollen und brauchen, um sicher regieren zu können, ist klar“, bekennt Gräßle. Andererseits sagt sie: „Ich betrachte das, was hier passiert, als unglaublich ermutigend für die nächsten Jahre, und als Motivation.“ Dann, kurz vor 18.40 Uhr, die ersten Ergebnisse aus dem hiesigen Wahlkreis. Gräßle liegt deutlich vorn. Die Stimmung plötzlich eine ganz andere. Applaus bricht aus und hält lange an. Das Direktmandat ist wohl sicher. Und ihr erklärtes Ziel, auch in Spiegelberg die Nase vorn zu haben, hat die künftige Abgeordnete auch erreicht.

Bei der CDU-Wahlparty in der Weinstube Kunberger verfolgen Inge Gräßle (Mitte), Siegfried Lorek (dahinter) und ihre Parteifreunde die Ergebnisse für den hiesigen Wahlkreis. Foto: J. Fiedler

© Jörg Fiedler

Bei der CDU-Wahlparty in der Weinstube Kunberger verfolgen Inge Gräßle (Mitte), Siegfried Lorek (dahinter) und ihre Parteifreunde die Ergebnisse für den hiesigen Wahlkreis. Foto: J. Fiedler

Die Genossen sind erfreut

Bei der SPD in der „Uhr“ ist die Stimmung gelöst. Rund 25 Genossen haben sich in der Weinstube versammelt. Auf den Tischen stehen Bierkrüge, im Fernsehen läuft ARD. Die Hochrechnungen zeigen die SPD leicht vor der CDU. Welche Koalition es am Ende wird, da gehen die Meinungen im Raum auseinander. Die einen tippen auf Jamaika, die anderen auf die Ampel. Wo sich alle einig sind: „Der Wille der Wählerinnen und Wähler ist, dass Olaf Scholz Kanzler wird“, so der Landtagsabgeordnete Gernot Gruber. Und auch da herrscht Einigkeit: Vor einem halben Jahr hätte kaum einer mit einem so guten SPD-Ergebnis gerechnet. Nur Stadtrat Armin Dobler setzte trotz anfänglichem Höhenflug der Grünen früh darauf, dass die Genossen die Ökopartei noch überholen würden – und hat mit dieser Prognose eine Flasche Lemberger von Parteifreund Heinz Franke gewonnen. Backnangs Juso-Chef Julian Gilke hätte sich gewünscht, dass das Ergebnis mit zwei oder drei Prozentpunkten mehr „deutlicher zugunsten die SPD ausfällt“, ist ansonsten aber sehr zufrieden. Auch mit dem Wahlkampf von Tim-Luka Schwab im Wahlkreis. Der 21-Jährige betritt die „Uhr“ um kurz nach halb neun. Nachdem sein Applaus verebbt ist, erkundigt er sich nach den Hochrechnungen. Und schließt: „Es sieht ganz gut aus, dass wir die Wahl gewinnen und mit Olaf Scholz den nächsten Bundeskanzler stellen werden.“ Dass es für ihn selbst nicht gereicht hat, nimmt er sportlich. „Wir wussten, dass es in diesem Wahlkreis schwierig wird“, sagt er. „Nichtsdestotrotz haben wir uns das Ziel gesetzt zu gewinnen. Das haben wir nicht erreicht.“ Natürlich sei er enttäuscht. Gleichzeitig freue er sich darauf, bald wieder mehr Zeit für sein Studium, Freunde, Familie und Sport zu haben. „Eine große Anspannung ist heute von mir abgefallen. Ich habe im Wahlkampf alles gegeben.“

In der „Uhr“ freuen sich Tim-Luka Schwab (rechts), Gernot Gruber (links) und Georg Süßmeier über das gute Abschneiden der SPD – und über den Abschluss des Wahlkampfs. Foto: J. Fiedler

© Jörg Fiedler

In der „Uhr“ freuen sich Tim-Luka Schwab (rechts), Gernot Gruber (links) und Georg Süßmeier über das gute Abschneiden der SPD – und über den Abschluss des Wahlkampfs. Foto: J. Fiedler

Die Grünen sind etwas desillusioniert

Mitstreiter der Grünen aus Backnang und dem oberen Murrtal kommen am Abend im Backnanger Wohnzimmer zusammen. Als die ersten Prognosen auf dem großen Bildschirm über der Theke eintrudeln, bleibt es ruhig. Sehr ruhig. „Das ist schon weniger, als ich erwartet habe“, sagt der Backnanger Grünen-Stadtrat Willy Härtner angesichts der rund 15 Prozent. Mindestens 16,5 Prozent hätte er sich gewünscht, bestenfalls sogar 20 Prozent. Vielleicht liege es daran, dass die Stimmung noch vom Landtagswahlkampf geprägt gewesen sei. In Baden-Württemberg hätten dann doch mehr Menschen das Vertrauen, dass die Grünen die Energiewende und die gesellschaftliche Transformation hinbekommen, so seine Überlegung. „Dass ich enttäuscht bin, wäre zu viel gesagt, aber die Realität hat einen eingeholt. Es ist wie, wenn man sich auf ein süßes Bonbon freut, das dann doch etwas weniger Geschmack hat“, sagt Härtner. Für Grünen-Kreisrat Bernd Messinger ist nun die Frage, ob die SPD die Nase vorn behält und die Linke einzieht. Der Wunschpartner für Koalitionsverhandlungen sei nicht die CDU. Und mit der FDP würde es in puncto Klimaschutz schwer. Erinnerungen an die vor vier Jahren geplatzte Jamaikakoalition werden wach. Grünen-Regionalrätin Renate Burkhardt-Schimpf fragt sich, wofür die AfD elf Prozent von den Wählern bekommen hat. Dann meldet sich Ricarda Lang per Smartphone aus Berlin. Weil aber der Ton zu leise bleibt und ein Gespräch nicht möglich ist, schickt sie eine Grußbotschaft an ihre Parteigenossen. Später am Telefon hebt sie das gute Ergebnis in Berlin hervor, räumt aber auch ein: „Wir haben nicht geschafft, was wir uns vorgenommen hatten, nämliche eine Führungsrolle einzunehmen. Aber das schmälert unsere Verantwortung nicht, das bestmögliche herauszuholen.“ Sie geht davon aus, dass ihr das Bundestagsmandat sicher ist. Gegen 19.30 Uhr liegt ihr Ergebnis im Wahlkreis noch bei rund zehn Prozent. Ist sie enttäuscht? Sie will die endgültigen Ergebnisse abwarten, meint sie. Gleichzeitig freue sie sich, dass der Wahlkreis nun eine erste Bundestagsabgeordnete bekommt und auf die damit verbundene Aufbauarbeit. „Die Gespräche im Wahlkampf haben mir auch gezeigt, dass es Lust auf Veränderung gibt.“ Sie wertet das Wahlergebnis als Etappensieg, jetzt heiße es, dranzubleiben.

Ricarda Lang, am Abend in Berlin, freut sich auf die Arbeit als Abgeordnete. Foto: privat

Ricarda Lang, am Abend in Berlin, freut sich auf die Arbeit als Abgeordnete. Foto: privat

Keine Party bei der AfD

Dass es im Wahlkreis Backnang/Schwäbisch Gmünd keine Wahlparty geben würde, hatte die AfD schon vorher entschieden, viel Grund zum Feiern hätte es für die Partei an diesem Wahlabend aber auch nicht gegeben. „Das Bundesergebnis ist nicht befriedigend, mit zehn Prozent können wir nichts reißen“, bilanzierte Andreas Wörner. Statt im Kreise von Parteifreunden verbrachte der hiesige Kandidat den gestrigen Abend daheim vor seinem Computer und konnte sich dort zumindest damit trösten, dass er mit seinem persönlichen Erststimmenergebnis nur knapp hinter dem von Daniel Lindenschmid von 2017 geblieben ist. „Im Rahmen der Möglichkeiten passt das“, bilanzierte Wörner. Schließlich sei er erst im Juli für den ursprünglich nominierten Frank Kral nachgerückt und habe auch kein großes Wahlkampfbudget zur Verfügung gehabt. Die vergangenen Wochen bewertet der 56-Jährige dennoch als persönliche Bereicherung und könnte sich auch eine weitere Kandidatur durchaus vorstellen.

FDP erreicht gesteckte Ziele

David-Sebastian Hamm (FDP) zeigt sich am Abend sehr zufrieden mit dem Wahlergebnis seiner Partei. „Wir haben bei zwei Bundestagswahlen hintereinander ein zweistelliges Ergebnis erreicht. Das war unser Ziel und das haben wir geschafft.“ Beim Kampf um das Direktmandat konnte er auch im Wahlkreis Backnang/Schwäbisch Gmünd ein gutes zweistelliges Ergebnis erzielen. „Und bei den Zweitstimmen liege ich im Wahlkreis sogar über dem Bundesergebnis, damit habe ich das Soll für meine Partei definitiv erfüllt“, sagt Hamm, der den Abend im „Forum Gold und Silber“ in Schwäbisch Gmünd verbracht hat. Der 44-Jährige geht davon aus, dass die FDP nun auf jeden Fall in die Koalitionsverhandlungen geht. Er sei dafür, möglichst offen in die Verhandlungen zu gehen und eine offene Diskussion zuführen, die meisten Schnittpunkte sieht er aber definitiv mit der CDU.

Keles: Böse Überraschung für die Linke

Dass die Linke so deutlich an Stimmen verlieren und um den Einzug in den Bundestag bangen würde, hatte die Backnanger Kandidatin Annette Keles nicht erwartet. Sie hat die Prognosen und Hochrechnungen zu Hause am Fernseher verfolgt. „Ich habe mit etwa sechs Prozent gerechnet“, sagt sie. Ihr eigenes Ergebnis im Wahlkreis sei da zweitrangig, sie habe sich nicht darüber gewundert. In diesem Jahr sei es den Wählern um einen Richtungswechsel gegangen, dieser werde nun einmal zwischen den großen Parteien entschieden, erklärt sie. Immerhin der sei geglückt, wenn auch zulasten ihrer Partei. „Die SPD hat einen klaren Regierungsauftrag und eine Koalition mit Grünen und FDP kann ich mir am ehesten vorstellen“, sagte Keles. Sie wünsche sich Olaf Scholz als Kanzler und habe auch Vertrauen in seine Fähigkeit.

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Erstellt:
27. September 2021, 06:00 Uhr

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