Wohnungslosigkeit bei Frauen ist wenig sichtbar

Aus Scham suchen Frauen ohne Wohnsitz oft nicht bei Institutionen Hilfe, sondern begeben sich in neue Abhängigkeitsverhältnisse

Wenn von Wohnungslosen die Rede ist, stellen sich die meisten Menschen wohl Männer vor. Doch auch Frauen sind zunehmend Opfer der Wohnungsnot – sie sind in der Öffentlichkeit nur nicht so sichtbar, erklärt Wolfgang Sartorius, Vorsitzender der Erlacher Höhe. Das Menschenrecht auf Wohnung müsse ernster genommen werden, fordert er.

Den Schlüssel zur eigenen Wohnung in den Händen zu halten – für die Frauen, die im Haus Karla Unterschlupf und Hilfe finden, ist das das langfristige Ziel. Der überlastete Wohnungsmarkt macht es ihnen aber schwer. Foto: Imago

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Den Schlüssel zur eigenen Wohnung in den Händen zu halten – für die Frauen, die im Haus Karla Unterschlupf und Hilfe finden, ist das das langfristige Ziel. Der überlastete Wohnungsmarkt macht es ihnen aber schwer. Foto: Imago

Von Lorena Greppo

BACKNANG. Eigentlich hatte Eva (Namen von der Redaktion geändert) ihr Leben im Griff. 33 Jahre lang war die heute 55-Jährige fest angestellt in der Gastronomie der Daimler AG, hatte wenige Jahre zuvor auch ein Haus in Fellbach übernommen, das sie Stück für Stück abbezahlte. Dann aber kam alles anders. „Meine Mutter ist schwer erkrankt“, erzählt sie. Pflege und schließlich der Tod der Mutter überforderten sie, sodass sie einfach nicht mehr zur Arbeit ging, erzählt Eva. Den Job verlor sie daraufhin, konnte in der Folge das Haus nicht mehr abbezahlen. Dann starb der Lebensgefährte. Eine Zeit lang kam sie bei Freunden unter, erzählt die 55-Jährige. „Es hat eine Weile gedauert, bis ich mir Hilfe geholt habe.“ Der emotionale Druck habe sich so lange angestaut, bis sie sich gesagt habe: „So geht es nicht weiter. Entweder du stirbst, oder du lebst weiter, aber richtig.“ Über eine Mitarbeiterin der Erlacher Höhe, die in Waiblingen im Einsatz war, kam Eva im April schließlich ins Haus Karla in Backnang.

Psychische und körperliche Erkrankung geht oft damit einher

Diese „verdeckte, unsichtbare Wohnungslosigkeit“, erklärt Anton Heiser, Abteilungsleiter der Erlacher Höhe im Rems-Murr-Kreis, sei symptomatisch bei Frauen. „Aus Scham suchen wohnungslose Frauen zuerst nach privaten Alternativen, bevor sie in der Öffentlichkeit sichtbar werden.“ Eva hatte insofern Glück, sie fand bei Freunden Unterschlupf. Für viele Frauen führe diese Art der Wohnungslosigkeit aber auch zu neuen Abhängigkeiten. „Sie riskieren materielle, soziale und sexuelle Abhängigkeiten und gehen Beziehungen mit Männern ein.“ Frauen verstünden ihre Lage als persönliches Versagen, weshalb sie oftmals Leistungen, die ihnen zustünden, nicht in Anspruch nehmen.

Wenn Frauen dann tatsächlich sichtbar wohnungslos werden, gehen damit oft körperliche und psychische Erkrankungen einher, so Heiser weiter. Die unsicheren Lebensumstände ohne Wohnsitz verschlimmern die psychische Integrität zusätzlich. Das Haus Karla habe es sich deshalb zum Ziel gesetzt, die Frauen in solch prekären Situationen möglichst früh zu erreichen, „um genau diese Spirale zu vermeiden“. Das gestaltet sich angesichts eines immer angespannteren Wohnungsmarkts zunehmend schwierig. Über zwölf Plätze verfügt das Haus Karla in Backnang. Im Schnitt blieben die Frauen etwa elf Monate dort, sagt Heiser. Die Nachfrage übersteige das Angebot bei Weitem, sodass regelmäßig Frauen abgelehnt beziehungsweise auf die Warteliste gesetzt werden müssten. Herausfordernd sei auch, „wenn Frauen wieder so weit sind, allein zu wohnen, aber keine Wohnung finden“, fügt Barbara Greiner, Sozialarbeiterin im Haus Karla, an. Das verstopfe das System und führe dazu, dass keine neuen hilfsbedürftigen Frauen aufgenommen werden können.

„Da muss politisch Bewegung reinkommen“

Wolfgang Sartorius ist deshalb klar in seinen Forderungen: „Da muss politisch Bewegung reinkommen. Die Gewichtung auf dem Wohnungsmarkt muss deutlich zugunsten des sozialen Wohnungsbaus verschoben werden.“ In den 90er-Jahren, als viele Aussiedler nach Deutschland kamen, sei dieser etwa steuerlich begünstigt worden, merkt er an. „Von der Bundesregierung würden wir uns insofern etwas mehr Kreativität wünschen.“ Auch bräuchte es verstärkt präventive Programme, sagt er.

Vor dem Leben auf der Straße bewahrt wurde etwa die 31-jährige Nadine (Name geändert). Auch ihr Lebensweg ist von persönlichem Verlust geprägt. Lange Zeit habe sie sich um ihren kranken Vater gekümmert. Neben der Arbeit habe sie deshalb keine Zeit gehabt, um Kontakte zu knüpfen. Als der Vater starb, „hat mich das komplett fertig gemacht“, schildert sie. Sie habe sich zu nichts mehr aufraffen können, habe ihre Wohnung vermüllt, Rechnungen nicht bezahlt und sah sich schließlich einer Räumungsklage gegenüber. „Mein Vermieter hat den Kontakt zu sozialen Diensten geknüpft.“ Seitdem wohnt die 31-Jährige im Haus Karla, lernt von Neuem, sich um alltägliche Dinge zu kümmern und hofft, bald wieder auf eigenen Beinen zu stehen. In einer eigenen Wohnung.

Info
Mehr Frauen sind von der Wohnungsnot betroffen

Laut Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe waren 2017 etwa 68000 Frauen in Deutschland wohnungslos. Ihr Anteil im Hilfesystem der freien Träger stieg demnach seit 2011 um 4,8 Prozent auf aktuell 27 Prozent.

In Baden-Württemberg erreichte die Zahl der Frauen, die sich an die Wohnungslosenhilfe wandten, mit 3316 einen noch nie da gewesenen Höchststand und stieg somit in zehn Jahren um fast 50 Prozent an.

Seit 2005 haben sich die Zahlen der betreuten Frauen in der Erlacher Höhe verdreifacht (erhoben werden die Zahlen jeweils an einem Stichtag).

Der Frauenanteil in der Erlacher Höhe ist in den vergangenen zehn Jahren von 26,4 Prozent auf 31,4 Prozent angestiegen. Weil der Wohnungsmarkt allgemein überlastet ist, trifft die Wohnungslosigkeit alle Menschen, erklärt Wolfgang Sartorius. So geraten auch Frauen häufiger in Not.

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Erstellt:
21. August 2019, 06:00 Uhr

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