Zugfahrt durch den Untergrund

Der Vortrieb im Fildertunnel von Stuttgart 21 ist bald beendet

Durch den Fildertunnel sollen bald Züge mit bis zu 250 Kilometern pro Stunde rasen. Noch wird gebaut – doch bereits jetzt herrscht dort Bahnverkehr. Mensch und Material legen weite Wege zurück.

Stuttgart Der Arbeitsplatz von Almedin Dzaferovic wirkt irgendwie gewöhnungsbedürftig. Denn der Lokführer sitzt entgegen der Fahrtrichtung in seinem Führerstand. Nach vorne kann er ohnehin nichts sehen, denn eine zweite Lok ist vor seine gekoppelt. Stattdessen geht sein Blick konzentriert zu einem kleinen Bildschirm in der rechten oberen Ecke. Er steuert sein Arbeitsgerät ausschließlich über Kameras.

Nun ist es kein ICE, den Dzaferovic lenkt. Auch Signale gibt es auf seiner Hausstrecke nicht. Wer bei ihm mitfährt, wird sehr staubig – und mächtig durchgeschüttelt. Der Mann in der orangefarbenen Warnweste trägt einen Helm und fährt einen der kleinen Versorgungszüge, die rund um die Uhr durch den Fildertunnel rattern. Die Baustellen in den beiden jeweils 9,5 Kilometer langen Röhren, die im Zuge von Stuttgart 21 dereinst den Stuttgarter Hauptbahnhof mit der Filderebene verbinden sollen, verlangen nach Material. Dzaferovic und seine Kollegen liefern es – genauso wie Sprudel oder Menschen, die so ihren Arbeitsplatz erreichen. Nicht wie künftig die ICE mit bis zu 250 Kilometern pro Stunde, sondern mit maximal 32 Sachen.

Die Fahrt beginnt am Tunnelportal an der A 8. Unter dem Fasanenhof hindurch geht es hinein in die blauschwarze Dunkelheit der Weströhre. Meist sind drei Versorgungszüge gleichzeitig unterwegs, um den ständigen Hunger der Maschinen zu stillen. „Ein Zug hat alles für zwei Meter Tunnel dabei“, weiß Bahn-Teamleiter Thomas Berner. Das entspricht einem Betonring für die Röhren. Jeder besteht aus sieben Einzelelementen, den sogenannten Tübbingen, und wiegt alles in allem 95 Tonnen.

Weil wenig Lagerplatz vorhanden ist, werden die Elemente fast tagesaktuell angeliefert und von riesigen Kränen auf die kleinen Züge geladen. Inzwischen sind alle, die für den Fildertunnel benötigt werden, produziert. Der letzte ist im Februar im bayerischen Neumarkt hergestellt worden. Von dort rollen sie per Zug nach Plochingen, werden auf Lastwagen umgeladen und dann zum Fasanenhof gebracht. „Ursprünglich sollte fast alles über die Innenstadt angeliefert werden“, sagt Berner. Doch zur Entlastung geht jetzt alles oben hinein – und der Abraum von 900 000 Tonnen über Förderbänder auch oben hinaus.

Das bedeutet weite Wege. Denn inzwischen ist der Bau gut vorangekommen. Die Weströhre ist durchgängig befahrbar, die Oströhre sowohl von oben als auch von unten weit fortgeschritten. Mittlerweile hat der Vortrieb die 17-Kilometer-Marke überschritten, es fehlen nur noch zweieinhalb Kilometer. Die große Vortriebsmaschine frisst sich derzeit in der Oströhre den Berg hinauf in Richtung Fernsehturm. „Um die Baustelle zu erreichen, fahren Mitarbeiter und Material deshalb erst vom Fasanenhof knapp zehn Kilometer durch die Weströhre hinunter und danach zwei Kilometer wieder die Oströhre hinauf“, erklärt Berner. Damit das überhaupt funktioniert, ist unten eine Wendekaverne eingerichtet worden.

Dzaferovics Zug rattert voll beladen durch den spärlich beleuchtete Tunnel. Eine halbe Stunde dauert das bis unten. Es rüttelt und quietscht. 155 Meter Höhenunterschied werden überwunden. Auf etwa halber Strecke wird der Tunnel plötzlich kerzengerade. Der Lokführer hält kurz an, um an der einzigen Begegnungsstelle Gegenverkehr durchzulassen. Direkt unter der Waldau steht man hier. „Ich fahre die Strecke zehnmal am Tag“, sagt Dzaferovic. Er macht den Job auf dieser und anderen Baustellen seit 14 Jahren. „Langweilig wird das nicht, denn jede Fahrt ist anders.“

Der Zug ist unten angekommen und fährt in die Wendekaverne. Die Weiche wird umgestellt. Mit Getöse setzt sich das schwere Gefährt wieder in Bewegung – diesmal in die andere Richtung, den Berg hinauf. Nach ein paar Minuten endet die Fahrt. Hier ist der Tunnel hell erleuchtet, die Luft warm und weniger staubig – die aktuelle Baustelle ist erreicht. Eine Saugplatte setzt auf dem ersten Tübbing auf. Jeder einzelne Stein wird auf diese Weise angehoben und vorgeschoben. Ein riesiger Metallarm setzt die Elemente an der Tunnelwand zu einem Ring zusammen. Nur zwei Männer überwachen und lenken direkt an der Einsetzstelle diesen Vorgang. Die Ringbauer richten die Tübbinge mit einem Meterstab aus. Nach kurzer Zeit ist der Zug komplett entladen, der Ring geschlossen. Zwei weitere Meter Innenhaut des Fildertunnels sind fertig.

Die Fahrt geht zurück nach oben. Unterwegs lädt der Versorgungszug mehrere Arbeiter ein. Sie sind staubbedeckt. „Das ist unser täglicher Arbeitsweg. Staufrei“, sagt einer lachend und steigt in den engen Wagen, in dem eine Handvoll Menschen Platz findet. Beim Schichtbeginn sind die Gespräche meistens lebhafter – bei der Rückfahrt nach Feierabend ist es oft stiller. Lampe um Lampe zieht draußen vorbei, alle 500 Meter ein Verbindungsbauwerk in die andere Tunnelröhre – das war’s. Nach einer halben Stunde ist das Tageslicht erreicht. Langsam rattert der Zug ins Freie.

Dort lagern ungefähr 40 Ringe. Der Berg aus Beton wirkt gewaltig, doch die Elemente reichen nur für wenige Tage. „Man muss sehr genau disponieren, damit die Menge beispielsweise auch fürs Wochenende groß genug ist, sagt Berner. Die Tübbinge werden genau in der Reihenfolge angeliefert und auf die Züge gesetzt, in der sie im Tunnel auch verbaut werden müssen. Gearbeitet wird rund um die Uhr außer an Ostern und Weihnachten. Das aber nicht mehr allzu lang. Jeden Tag geht es 20 bis 22 Meter voran. Der Großteil der insgesamt mehr als 50 000 Tübbinge ist bereits verbaut, die Vortriebsmaschine wird ihre Arbeit bald beenden. „Wir erwarten im Sommer den Durchbruch“, sagt der Bahn-Teamleiter.

Auch im weiteren Verlauf der Neubaustrecke in Richtung Ulm geht es voran. Wie die Bahn am Mittwoch bekannt gegeben hat, laufen die Arbeiten im Bereich des Albvorlands zwischen Wendlingen und Aichelberg auf Hochtouren. Die Eisenbahnbrücken über den Neckar und über die bestehende Bahnstrecke in Wendlingen sind im Bau, beim gut acht Kilometer langen Albvorlandtunnel ist in beiden Röhren jeweils nur noch rund ein Kilometer Tunnel vorzutreiben. Entlang der A 8 zwischen Kirchheim unter Teck und Aichelberg werden derzeit bereits die Erdwälle neben der künftigen Bahnstrecke aufgeschüttet.

Almedin Dzaferovic steigt aus seinem Zug. Er hat den Fildertunnel an diesem Tag zum letzten Mal verlassen und macht Feierabend. Sehr staubig und mächtig durchgeschüttelt – so wie immer.

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Erstellt:
9. Mai 2019, 02:04 Uhr

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