„Tannöd“-Premiere in Esslingen

Die Nacht der lebenden Toten

Christoph Biermeier inszeniert an der Esslinger Landesbühne eine Mordgeschichte als aggressiven Tanz von Weltkrieg-Zombies und sozial Schwerbeschädigten.

Es ist ein Kreuz mit den patriarchalen Verhältnissen.

© Björn Klein

Es ist ein Kreuz mit den patriarchalen Verhältnissen.

Von Martin Mezger

Und wenn sie nicht gestorben sind? Sind sie aber. Trotzdem töten die einen weiter, die anderen werden weiter getötet, und die einen und die anderen sind weitgehend dieselben. Die ewigen Wiedergänger kann die ewige Krimifrage nicht bannen: Wer war’s? Andrea Maria Schenkel gibt in ihrem Roman „Tannöd“ eine Antwort – anders als die Ermittlungen im zugrunde liegenden realen Sechsfach-Mord auf dem bayerischen Bauernhof Hinterkaifeck im Jahr 1922. Von wem und warum die Familie mit der Spitzhacke ausgelöscht wurde, ist bis heute ungeklärt.

Dass sich auch in Christoph Biermeiers Inszenierung an der Esslinger Landesbühne (Theaterfassung: Maya Fanke und Doris Happl) der übliche Verdächtige bezichtigt und doch keine Verantwortung für seine Tat übernimmt, wird zum Passepartout: Jeder könnte in diesem Rahmen (ge-)stehen. Die Regie ist klüger als der Roman. Sie versteht mehr von Krimi-Metaphysik: der Frage, was dahinter steckt, und der Aufklärung, die nicht beim „Der war’s“ stehen bleibt.

Mühsam klimmt im Esslinger Schauspielhaus eine Zwangsgemeinschaft auf die schiefe Ebene von Claudia Rüll Calame-Rossets Bühnenpodest: Leute, die sich nicht gesucht haben; Familie, Nachbarschaft, Dorf, verbunden durch Klatsch, Tratsch, Missgunst und Missbrauch, Kirche und Krieg, der sie immer wieder niederstreckt. Man stirbt hier nicht nur zweimal. Man stirbt ständig – und macht weiter. Das große, in den Bretterboden gesägte Kreuz ist Grab, Abgrund und Machtsymbol gleichermaßen.

In den Mosaiksteinchen der Zeugenaussagen, zu denen der Kriminalfall zersplittert, schimmern noch ganz andere Indizien: für das alltägliche Elend der mental Kriegsversehrten und sozial Schwerbeschädigten. Geschichten vom Vater, der mit seiner Tochter zwei Kinder zeugt; vom Ehemann, der seine kranke Frau nicht mehr erträgt und ihren Tod als Befreiung aus lebenslanger Fremdbestimmung bejubelt; von der polnischen Zwangsarbeiterin, die sich als Opfer sexualisierter Gewalt erhängt; vom Bürgermeister, der die Aufregung um den Suizid der „labilen Halbjüdin“ nicht versteht und überhaupt die alten Geschichten ruhen lassen will.

Dass Schenkel die Ereignisse in die 1950er-Jahre verlegt, die Zeit des Verschweigens und der verstummten Fragen, des konzentrierten Erinnerungsverlusts und der abgewälzten Verantwortung, spiegelt im Sechsfach- den Massenmord durch Krieg und Vernichtung.

Konsequent lässt Biermeiers grandios düstere Regie in und hinter dem Kriminalfall einen sozialen Horrorfilm ablaufen, der in der Wirklichkeit spielt. Der Regisseur biegt das nicht zu Dorfdeppen-Realismus klein, sondern steigert es durch Stilisierung zu schauerlicher Allgemeingültigkeit. Die Musik Thomas Unruhs steuert dazu einen Granaten- und Grusel-Soundtrack bei, eine Stimmungsmixtur aus „Apocalypse now“ und „Rosemary’s Baby“.

Der Krieg, als dessen Opfer man jammert und in den man doch willig gezogen ist, geht in den armen Seelen weiter. Das Verdrängte feiert traumatische Wiederkehr, die Nacht der lebenden Toten wird zum Tanz der Weltkrieg-II-Zombies. Mit Aggro-Krampf- und Zwanghaftigkeit treiben sie der im Chor skandierten Allerseelenlitanei wie dem Schuhplatteln mit Dorfmusi den letzten Rest an heiligem Geist und kreuzfideler Gaudi aus.

An der Kante von Resignation und Trotz

Vielleicht ist die ganze Horrorshow die Außenwelt der Innenwelt einer Frau, in der sich alles real erlebte Grauen bündelt: eine hellsichtig halluzinierte Alptraum(a)-Projektion, die nicht vergehen kann im Kopf der inzestuös missbrauchten, später ermordeten Barbara. Feline Zimmermann spielt sie unglaublich stark, an der Kante von Resignation und Trotz, verzweiflungsintensiv, wütend, beherrscht – und komplex: Ja, sie hat ihren Vater geliebt, und diese Liebe, nicht nur ihren Körper, hat er vergewaltigt.

Mechanik des Kollektiven, Leiden des Individuellen

In Schenkels Textsteinbruch, wo die Menschen von sich in dritter und erster Person reden, wo Außen und Innen ineinandergleiten, legt Biermeier der Opferrolle der Barbara auch die Worte des mit „Er“ anonymisierten Täterprofils in den Mund. Überhaupt unterstreicht die Verteilung des vielstimmigen Sozialpanoptikums aufs nur achtköpfige Ensemble die Mechanik des Kollektiven. Umso aus- und eindrucksvoller wird das Leiden des Individuellen verkörpert von Kristin Göpfert, Daniel Großkämper, Gesine Hannemann, Oliver Moumouris, Lily Frank, Reinhold Ohngemach und Markus Michalik.

Der ewig Abgewandte

Ermittlungsergebnis aus dem Puzzle großartig scharfer darstellerischer Einzelbelichtungen: Verantwortlich für den Mord ist die Gewalt patriarchaler Verhältnisse. Biermeiers kriminalistisches Welttheater fragt – abermals metaphysisch – nach dem Urheber hinter dem mörderischen Gesellschaftsmodell. Er verrät sich durch hämisches Lachen, der ewig Abgewandte hinten rechts auf der Bühne, Gott oder Teufel. Der war’s.

Die nächsten Vorstellungen im Esslinger Schauspielhaus: 30. Mai, 3., 4. und 7. Juni, 12., 17. und 18. Juli 2025.

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Erstellt:
26. Mai 2025, 11:54 Uhr
Aktualisiert:
27. Mai 2025, 14:32 Uhr

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