100. Geburtstag von Frei Otto
Die Natur ist der beste Baumeister
Mit seinen Prinzipien von Interdisziplinarität und Nachhaltigkeit war der Stuttgarter Architekt Frei Otto seiner Zeit voraus. In diesem Jahr wäre er 100 Jahre alt geworden.

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Das berühmte Dach des Olympiastadions ist zu einem Wahrzeichen von München geworden.
Von Falk Jaeger
Er hatte die Zeichen der Zeit erkannt. Frei Otto, 1925 im sächsischen Siegmar geboren, Segelflieger und Kampfpilot im Zweiten Weltkrieg, hatte dem Flugzeugbau abgeschaut, wie man leichte und dennoch stabile Konstruktionen entwickeln konnte, fragile Aluminiumgerüste mit lackierter Leinwand bespannt zum Beispiel, oder aus dünnem Blech gepresste Rundformen, die aufgrund ihrer Wölbung hohe Stabilität erreichen. „Leichten Flächentragwerken“ gehörte fortan seine Aufmerksamkeit, ihnen widmete er sein ganzes Berufsleben. Als Vorkämpfer der Nachhaltigkeitsbewegung suchte er Lösungen, wie man große Flächen mit möglichst wenig Materialeinsatz überdachen kann.
So kam er zu seinen Zeltdächern, deren erstes als deutscher Pavillon auf der EXPO 1967 in Montreal entstand. Es war der Prototyp des berühmten Olympiadachs von 1972 in München, den er mit den Architekten Behnisch und Partner und dem Ingenieur Jörg Schlaich realisierte: Es ist bis heute eine zauberhafte Anlage und eine Ikone der Architektur des Zwanzigsten Jahrhunderts. Der Zeitgeist spielte ihm in die Karten. Keiner wollte mehr den klobigen, schweren Neoklassizismus der NS-Zeit sehen. Das Olympiadach wurde zum Symbol der „heiteren Spiele“ in einem neuen Deutschland.
Ein ganzheitlicher Ansatz
Frei Otto, der in Berlin Architektur studiert und seine Dissertation über „Das hängende Dach“ verfasst hatte, kam 1964 nach Stuttgart, wo er das Institut für leichte Flächentragwerke IL und den Sonderforschungsbereich SFB 64 gründete. Fortan versammelte er an seinem Institut die besten Forscher aus aller Welt, Ingenieure und Materialforscher, auch Biologen und Psychologen, denn Ottos ganzheitliche Ansatz war nicht nur darauf aus, experimentell die Natur zu befragen und auf dieser Grundlage Berechnungs- und rechnerunterstützte Entwurfsmethoden für die verschiedensten Flächentragwerksprinzipien zu entwickeln. Er weitete den Blick auf die unübertroffenen Konstruktionen der Natur, untersuchte Zellen und Knochen, Baumstämme und Grashalme, Termitenhügel, Kieselalgen und Seifenblasen, um ihnen brauchbare Konstrukte abzuschauen.
Aber er fragte auch nach den Errungenschaften für den Menschen und nach den Folgen menschlichen Tuns für die Umwelt. Schon in den 1960er Jahren stellte er die Forderung auf, von Bauwerken die Gesamtenergiebilanz zu berechnen. Frei Ottos herausragende Bedeutung gründet sich vor allem auf sein Wirken als Stichwortgeber, Initiator und leidenschaftlicher Lehrer. Er betrieb, was man später Think Tank nannte, scharte die engagiertesten Leute um sich, steckte sie mit seiner grenzenlosen Neugier an und animierte sie zur Teamarbeit.
Charismatischer Kollege
Wer erlebte, mit welch imposanter Präsenz Otto ganze Säle füllte oder wie seine Mitstreiter in kleinerer Gruppe ihm an den Lippen hingen, kann ermessen, wie er Überzeugungen in die Köpfe der Menschen pflanzen konnte, die anschließend seine Ideen und seine Haltung in die Welt trugen.
Er war weniger eigenständiger Architekt als vielmehr Partner bei vielen Projekten, zum Beispiel im arabischen Raum, wo mit Bodo Rasch und Rolf Gutbrod ganze Zeltdachstädte entstanden, Stadien und Paläste leicht und luftig zu überdachen waren. Mit vielen international Kollegen hat er kooperiert, darunter Ove Arup, Kenzo Tange und Shigeru Ban. Letztlich erfuhr er mit seinem Kosmos an Ideen und seiner humanistisch und ökologisch orientierten ethischen Haltung im Ausland eine höhere Wertschätzung als in seinem Heimatland. So erhielt er 2015 den als „Nobelpreis der Architektur“ geltenden Pritzker-Preis, dessen Überreichung er allerdings nicht mehr erlebte.
Ideengeber für S21
Auch an Stuttgart 21 hat er mitgewirkt, als Ideengeber für die Lichtkuppeln des von Christoph Ingenhoven erbauten Hauptbahnhofs, die freilich, als schwere Betonkonstruktionen realisiert, nicht mehr Frei Ottos Ideenwelt entsprechen.
Leichteres hatte er für Köln entworfen, das „Sternenzelt“ für die BuGa, später die flexible Überdachung der Klosterkirchenruine der Festspielstätte in Bad Hersfeld. Für eine Pink Floyd-Tournee entwickelte er 1977 mobile, aufspannbare Schirme zur Überdachung der Showbühne.
Sechs Prototypen dieser Schirme lagerten bislang noch unkatalogisiert in den Beständen des Südwestdeutschen Archivs für Architektur und Ingenieurbau saai in Karlsruhe. Dort hat sie der an der Universität Stuttgart Baukonstruktion lehrende Professor Jens Ludloff aufgespürt. Ludloff hatte sich bereits mit Frei Ottos Werk und speziell dessen Multihalle in Mannheim befasst. Drei der Schirme werden nun im Rahmen einer Abendveranstaltung des Symposiums zum 100. Geburtstag von Frei Otto bei Pink Floyd-Musik der Öffentlichkeit vorgestellt und lassen erahnen, wie Frei Ottos Werk seinerzeit in der kulturellen Welt vernetzt war.
Veranstaltungen
Jubiläum „Frei Otto 100 – The spirit of lightweight constructions“, unter diesem Motto veranstalten die beiden Nachfolgeinstitute von Frei Ottos „Institut für leichte Flächentragwerke“ ILEK und IFAG der Universität Stuttgart am 5. und 6. Juni auf dem Campus Vaihingen gemeinsam ein internationales Symposium.
Fest „Frei „Schirme aufspannen“, das vierstündige „Happening“ am Donnerstag, den 5. Juni, 20:00 Uhr im StadtPalais - Museum für Stuttgart begleiten Stuttgarter MusikerInnen mit Musik von Pink Floyd. Eintritt frei.